Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Auf dem Weg zu einem Nachfolgemedium für das «Katholische Gesangbuch» wurden mit einer Umfrage sowie einem Hearing mit Fachpersonen wichtige Schritte unternommen.

Wie wird das neue Medium Kirchengesang aussehen? (Bild: David Beale)

 

Das Wichtigste zuerst: Die Umfrage1 zeigte, dass die Teilnehmenden das Vorgehen der Projektgruppe «Chance Kirchengesang» grossmehrheitlich unterstützen. Zu allen sieben Themenbereichen – Traditionen bewahren und pflegen, Beteiligung ermöglichen, durch Kasualien Hilfe in wichtigen Lebenslagen bieten, als missionarische Kirche in kirchendistanzierter oder säkularer Gesellschaft Glauben teilen, in kultureller Vielfalt und spürbarer Zusammengehörigkeit Kirche sein, Ökumene fördern und Gottesdienste als Gemeinschaftshandeln erleben (Qualität) – gab es eine Zustimmung von rund 90 Prozent. Bei der Frage nach den vier wichtigsten Herausforderungen wurden Beteiligung, Qualität, Vielfalt und Ökumene genannt.
An der Umfrage nahmen 1061 Personen teil, die entweder in der liturgischen (51 Prozent) oder kirchenmusikalischen (49 Prozent) Verantwortung beteiligt sind.

Definitionen sind gefragt

Die grosse Übereinstimmung der Antworten führte am Hearing vom 3. September auch zu kritischen Rückfragen durch die anwesenden Fachpersonen. Wurden die falschen Fragen gestellt oder die falschen Menschen angefragt? Besonders auffällig war die hohe Zustimmung zur Aussage, dass der Kirchengesang ein Zusammenspiel von Liturgieverantwortlichen, Kirchenmusikerinnen resp. Kirchenmusiker und Gläubigen verlangt. Wenn dies für alle Beteiligten ein Ziel ist, warum wird dann in der Praxis immer wieder über die fehlende Einsicht zur Zusammenarbeit in diesem Bereich geklagt? Für Martin Conrad vom Liturgischen Institut bildet hier die Umfrage die Realität nicht ab.

Es stellte sich weiter die Frage, was mit «Beteiligung» konkret gemeint ist. Wer soll wie beteiligt werden? Gerade bei Kasualien werden die Liturgieverantwortlichen immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass selbst regelmässige Gottesdienstbesucherinnen und -besucher plötzlich Hemmungen haben, mitzusingen. Und im Hinblick auf die immer kleiner werdende Zahl von Menschen, die sich für eine Mitarbeit in der Pfarrei interessieren, muss die Frage erlaubt sein, ob sich die Gläubigen überhaupt beteiligen wollen.

In eine ähnliche Richtung ging die Diskussion zur Qualität. So erfreulich es ist, dass Qualität für alle Beteiligten ein wichtiges Ziel ist: Wer definiert, was Qualität heisst? Ist es die Qualität des Liedtextes? Der Melodie? Der praktischen Umsetzung? Des pastoralen Ziels, das dahintersteht? Birgit Jeggle-Merz, Professorin für Liturgiewissenschaft in Chur und Luzern, gab zu bedenken, dass Lieder für eine Pfarrei identitätsstiftend sein können, selbst wenn der Text qualitativ defizitär ist.

Was bei den Rückmeldungen zu den einzelnen Fragen immer wieder angemerkt wurde, waren Fragen zur konkreten Umsetzung. Sind die Ziele in der Praxis mit den verfügbaren personellen und finanziellen Mitteln umsetzbar? Werden die Verantwortlichen und/oder Gläubigen überfordert? Von Manfred Belok, Professor für Pastoraltheologie in Chur, kam dann auch der Hinweis, dass die Einführung eines neuen Mediums für Kirchengesang ein Prozess sein muss, den jede Pfarrei individuell auf ihre Verhältnisse angepasst umsetzen soll. Dabei können nicht alle sieben Ziele gleichzeitig verfolgt werden.

Die Frage des Wechselgesangs

Die Umfrage nahm ein Thema auf, das in letzter Zeit immer wieder zu reden gab: die Frage nach Kantorinnen resp. Kantoren und die Unterstützung durch (Kirchen-)Chöre. Der Einsatz von Vorsängerinnen und Vorsängern wird in den einzelnen Pfarreien unterschiedlich erlebt. In einigen Gemeinden haben diese bereits eine längere Tradition, andere Gemeinden finden trotz grossen Aufwands keine Frauen oder Männer, die diesen Dienst übernehmen würden, und wieder andere Gemeinden können sich mit der Idee des Wechselgesangs nicht anfreunden. Ein ähnliches Problem besteht im Zusammenhang mit (Kirchen-)Chören. Manche Chöre sind überaltert, andere haben genügend singfreudige Mitglieder, aber es fehlt ihnen das liturgische Interesse oder die Einbindung. Während Kirchenmusikschaffende oft Mitglieder im Pfarreiteam sind oder zumindest punktuell in die Planung einbezogen werden, bleiben Chöre aussen vor. Angesichts dieser Realität erstaunt es nicht, dass die Frage «Die liturgischen Lieder und Gesänge sind vermehrt auf eine Unterstützung durch KantorInnen, durch VorsängerInnengruppen oder durch Chöre ausgerichtet» am wenigsten Zustimmung erhielt (54,8 Prozent) und den grössten Anteil an absoluten Neinstimmen (9,3 Prozent).

Die Chance der Migration

Rund 40 Prozent aller Katholikinnen und Katholiken in der Schweiz haben einen Migrationshintergrund. Zur Umfrage wurden auch Missionare von anderen Sprachgemeinschaften resp. kirchliche Mitarbeitende dieser Sprachgemeinschaften eingeladen. Karl-Anton Wohlwend von migratio hätte sich gewünscht, dass bei der Umfrage auch ausgewiesen worden wäre, wie viele Mitarbeitende aus diesen Sprachgemeinschaften mitgemacht haben.2 Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob sich ihre Antworten mit jenen der anderen Mitarbeitenden decken. Dies wäre auch hilfreich gewesen im Hinblick auf den Einbezug der verschiedenen Sprachgemeinschaften, der anderen – von der römisch-katholischen Kirche anerkannten – Riten sowie der unterschiedlichen Spiritualität der Sprachgemeinschaften. Für Wohlwend bietet das neue Medium Kirchengesang die Chance, die Vielfalt und den Reichtum der Sprachgemeinschaften einfliessen zu lassen. Er fände es schön, wenn deren lebendige Liturgie unsere Gottesdienste bereichern würde.

Digitalisierung und blinde Flecken

Die voranschreitende Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten. Durch sie könnte die in der Umfrage gewünschte Vielfalt problemlos umgesetzt werden, da es im digitalen Raum keine Begrenzung auf eine bestimmte Anzahl Seiten gibt; Lieder könnten jederzeit hinzugefügt oder auch wieder entfernt werden. Es bestünde zudem die Möglichkeit, Lieder als Musikdateien zur Verfügung zu stellen. Hier wäre aber zunächst die wichtige Frage nach den Liedrechten zu klären. Ferner kann die Digitalisierung Menschen mit Beeinträchtigungen einerseits die Beteiligung an Gottesdiensten erleichtern, sie aber auch ausschliessen, z. B. Sehbehinderte, wenn ein Liedtext per Beamer eingeblendet wird.

Bei den Rückmeldungen am Hearing wurden auch blinde Flecken der Umfrage entdeckt: Wie steht es mit der Frage nach der katholischen Identität? Und müsste mit der Frage nach dem Kirchengesang nicht gleichzeitig auch die Frage nach der Instrumentalmusik gestellt werden? Gerade bei den Kasualien kann eine Melodie oft mehr bewirken als ein theologisch durchdachter Gesangstext.

Unklar für die Teilnehmenden des Hearings war zudem der Begriff Gottesdienst. Die Verantwortlichen hatten in der Umfrage bewusst ganz allgemein von Gottesdiensten gesprochen. Da aber die Eucharistiefeier einen Grossteil der Praxis bestimmt, dürften nach Einschätzung von Arnd Bünker vom SPI viele Teilnehmende diese Gottesdienstform im Kopf gehabt haben. Das Hearing habe gezeigt, dass es wichtig ist, beim Blick auf die Zukunft des Kirchengesangs auch andere Formen im Blick zu haben, z. B. niederschwellige Impulse mit Kindern und Jugendlichen oder Worship-Formate wie z. B. Adoray.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Hearings haben viele Fragen aufgeworfen und bedenkenswerte Ideen eingebracht, die nun von der Arbeitsgruppe aufgenommen und in die Planung einbezogen werden müssen. Zusätzlich wird die Arbeitsgruppe die rund 200 Seiten mit Anmerkungen aus der Umfrage sowie die Voten von Fachstellen auswerten. Sicher keine einfache Aufgabe. Die Ergebnisse der Umfrage und des Hearings zeigen, dass die Frage nach dem Nachfolgemedium für das «Katholische Gesangbuch» mehr ist, als die Suche nach neuen Liedern und Gebetstexten.

Rosmarie Schärer

 

1 Die vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) im Auftrag der DOK durchgeführte Umfrage fand vom 4. Mai bis zum 14. Juni 2020 statt.

2 Gemäss Arnd Bünker vom SPI wurden die Missionare bewusst angeschrieben. Allerdings hat das SPI keine Daten über deren Beteiligung, da im Fragebogen die Situation «Pfarrei – Mission» nicht unterschieden wurde. Grundsätzlich sei es für anderssprachige Seelsorgende oder Kirchenmusikschaffende unter Umständen schwieriger, einen Fragebogen in deutscher Sprache auszufüllen.

Weiteres Vorgehen: Die Festlegung der pastoralen Ziele durch die DOK erfolgt im November. Bis zum Sommer 2021 soll dann die Klärung der Massnahmen, die zum Erreichen der Ziele nötig sind, erfolgen. Dazu wird am 7. Mai 2021 eine Tagung «Chance Kirchengesang» stattfinden.

Weitere Informationen zum Umfrageergebnis unter www.spi-sg.ch

Siehe auch das Interview zu Chance Kirchengesang «Wir sind nicht uniform katholisch» mit Abt Urban Federer und Arnd Bünker in der SKZ 10/2020.