«Wir sind nicht uniform katholisch»

Wie kann der Kirchengesang zu einer lebendigen Kirche beitragen? Dieser Frage geht die Arbeitsgruppe «Chance Kirchengesang» auf der Suche nach einem Nachfolge-Medium des «Katholischen Gesangbuchs» nach.

SKZ: Wie ist die Arbeitsgruppe «Chance Kirchengesang» entstanden und was ist ihr Ziel?
Urban Federer (UF)1: Die zweite Auflage des «Katholischen Gesangbuches» (KG) läuft 2022/23 aus. Das KG hat ein gewisses Alter. Erst 2013 kam das «Gotteslob» für den gesamten deutschsprachigen Raum ausser der Schweiz auf den Markt. Es stellte sich die Frage: Das KG neu drucken, revidieren, Teile aus dem «Gotteslob» oder gleich das ganze «Gotteslob» übernehmen? Mit diesen Fragen befasste sich eine Arbeitsgruppe der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz (DOK). Dabei rückten bald andere Fragen in den Mittelpunkt. Darf es wirklich nur um das Nachfolgeprodukt des KG gehen oder müssten wir uns nicht grundsätzlich die Frage stellen: Welche Chancen birgt der Kirchengesang prinzipiell für die Zukunft der Kirche? So suchte ich das Gespräch mit Arnd Bünker vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut SPI und dem Verein Kirchengesangbuch3. Daraus entstand die neue Arbeitsgruppe «Chance Kirchengesang».

Die Arbeitsgruppe möchte durch den Kirchengesang zu einer lebendigen Kirche beitragen.
Arnd Bünker (AB)2:
Das SPI hat bereits vor 35 Jahren eine Umfrage zum Kirchengesangbuch gemacht. Schon damals ging es um die Alternative: ein neues Gesangbuch für die Deutschschweiz oder Mitbeteiligung am «Gotteslob»? Abt Urban und ich haben wenig Sinn darin gesehen, diese Frage von damals zu wiederholen, denn die Gottesdienstrealität ist schon jetzt eine andere. Wenn ich mir überlege, dass die Herstellung eines neuen Kirchengesangbuches 15 Jahre dauert, vielleicht sogar noch länger – wer singt dann überhaupt noch? Wie viele Gottesdienste werden im Jahr 2040 und 2050 noch gefeiert werden? Wie werden die Menschen dann geprägt sein? Die Kirchenstatistik des SPI lässt kaum Zweifel daran, dass wir in 20 Jahren noch viel mehr kirchenferne Menschen antreffen werden als heute. Der Gesang müsste dann auch diese Menschen ansprechen. Er sollte eine Chance bieten, dass Kirchenferne beim Kontakt mit der Kirche eine gute Erfahrung machen. Bestattungsgottesdienste sind das beste Beispiel dafür. Hier nehmen viele teil, weil sie mit der verstorbenen Person oder ihrer Familie bekannt waren. Sie sind durch den Todesfall persönlich betroffen, haben aber von der kirchlichen Feierform keine Ahnung. Trotzdem sollen sie in einer solchen Situation mitgenommen und getröstet werden, sollen sich als Teil der Trauergemeinde fühlen.

Es gehen nur noch wenige, meist ältere Gläubige in die Kirche. Die jungen Erwachsenen finden wir oft bei Adoray oder beim Weltjugendtag mit ihren Lobpreis- und Taizéliedern. Die Unterschiede zwischen den Gläubigen sind gross.
UF: Genau aus diesem Grund möchten wir uns nicht nur auf das zukünftige Gesangbuch fokussieren. Es gibt unter den Gläubigen so unterschiedliche Voraussetzungen, dass wir nicht einfach nur das KG anschauen und uns fragen wollten, was retten wir hinüber? Es geht nicht nur um die Frage, wo die Kirche in 20 Jahren steht. Wir wollen den Prozess dahin mit den Menschen zusammengehen und die Realität mitgestalten. Wir möchten mit der kürzlich gestarteten Umfrage «Chance Kirchengesang» alle Menschen, die in kirchenmusikalischer oder liturgischer Hinsicht Verantwortung tragen, einbeziehen. Es geht in diesem Jahr zunächst um die pastoralen Ziele des Kirchengesangs. Im nächsten Jahr sollen dann die Fragen nach den konkreten Umsetzungsmitteln gestellt werden. Wir werden dazu einen Kirchengesangstag veranstalten, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und zu diskutieren. Wir wollen nicht im stillen Kämmerlein irgendwelche Entscheidungen treffen.

Kirchengesang betrifft nicht nur die Gemeinden und ihre Seelsorgenden, sondern auch Kirchenmusiker, Kantorinnen und Kirchenchöre. Gibt es hier eine Zusammenarbeit?
UF: Ja. Wir möchten diesen Prozess mit möglichst vielen Beteiligten gestalten. In unserer Arbeitsgruppe sind mit Martin Hobi und Sebastian Bausch auch Chorleiter dabei. Sandra Rupp Fischer ist als Projektleiterin von «cantars» mit vielen katholischen und reformierten Kirchenchören bestens vernetzt. Die Umfrage ist ganz klar ein Beteiligungsinstrument – und wir hoffen auf starke Beteiligung! Dazu kommen die Verbände und Gremien im Bereich Liturgie und Kirchenmusik. Diese werden im September bei einem Hearing nochmals extra einbezogen.

Um den Kirchengesang zu fördern, braucht es fähige Menschen. Doch manchen Seelsorgenden und Musikschaffenden fehlt eine liturgische Ausbildung oder das Interesse daran.
AB: Man kann die Aussage auch umkehren: Manchen liturgisch Leitenden fehlt das Gespür für Bedeutung und Chancen der Musik. Diese Beobachtung bestätigt unseren Entscheid, nicht einfach nur ein neues Buch zu planen. Es braucht eine Einbettung in eine Gesamtstruktur. In diesem Zusammenhang müssen auch die Ausbildungen überprüft werden. Meines Erachtens braucht es für die Zukunft aber auch Mut zur Vielfalt. Neben der «gewohnten» Liturgie der Kirche müsste es auch sogenannte niederschwellige Gottesdienste geben. Letztere sind im missionarischen Kontext besser geeignet, fernstehende Menschen abzuholen, als zum Beispiel ein Hochamt. Es braucht eine Ausbildung für die Hochformen der Liturgie, aber ebenso eine Weiterbildung und Sensibilisierung für neue liturgische Gefässe.

Wie kann man Menschen motivieren, dem Kirchengesang einen höheren Stellenwert zu geben?
UF: Unsere Arbeitsgruppe kann nicht alle Probleme lösen. Aber wo, wenn nicht in solchen Prozessen oder an solchen Tagungen kann man über diese Dinge ins Gespräch kommen? Es gibt viele Fragestellungen, die in diesen Prozess hineinfliessen, und wir versuchen, die Menschen mitzunehmen. Erwähnt seien an dieser Stelle auch die vielen anderssprachigen Missionen, die stark präsent sind. Sie sind der Schweizer Bischofskonferenz ein besonderes Anliegen. Wir klären deshalb auch, wie die anderssprachigen Missionen und die Ortspfarreien über das Liedgut näher zusammenwachsen können.

AB: Ich bin froh, dass sich die DOK für einen partizipativen Prozess entschieden hat. Gerade weil nicht alle das Potenzial des Kirchengesangs sehen, können wir über die Umfrage vielen Menschen diese Frage stellen. Wir möchten mit der Umfrage bei den Menschen das Interesse wecken, die eigene Praxis zu reflektieren, und sie aus den Gewohnheiten des Alltags herauslocken.

Doch werden die Menschen den Schritt in die Zukunft machen können?
AB: Warum nicht? Im Augenblick geht es um die pastoralen Ziele. Wir stellen die Menschen auch nicht vor die Entscheidung, links oder rechts. Ich bin überzeugt, dass der Kirchengesang der Zukunft vielfältig sein wird – nicht nur in der Spannung zwischen traditionell und modern. Wir haben ja auch noch die Anderssprachigen, die verschiedenen Milieus und Generationen, die Kirchendistanzierten. Jetzt haben wir die Chance, sie alle im Blick zu haben. Sie gehören alle dazu. Wir sind nicht uniform katholisch.

UF: Es gibt Gemeinden und Gemeinden. In einigen Pfarreien herrscht ein gewisser Trott, in anderen wird zwar mit dem traditionellen KG gearbeitet, aber man spürt zugleich, dass sie reflektieren, wie sie den Schritt in die Zukunft machen können. Es gibt einfach alles! Bei einer «normalen» Umfrage bezüglich eines neuen Kirchengesangbuches hätte die Gefahr bestanden, alles auf die Frage zu reduzieren: Welche Lieder wollt ihr behalten? Das wäre letztlich beliebig, denn über Geschmack lässt sich bekantnlich streiten. Es gäbe ein Lied weniger und eines mehr – aber der gewohnte Alltag ginge weiter.

Interview: Rosmarie Schärer

 

1 Arnd Bünker (Jg. 1969) studierte Theologie in Münster und Belo Horizonte/Brasilien sowie Sozialpädagogik in Münster. Seit 2009 ist er Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) und Geschäftsführender Sekretär der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz.

2 Urban Federer (Jg. 1968) studierte Theologie in Einsiedeln und St. Meinrad, Indiana (USA), danach Germanistik und Geschichte in Freiburg i. Ue. Er war Dozent für Spiritualität und Gregorianik an der Theologischen Schule Einsiedeln. Seit 2013 ist er Abt des Klosters Einsiedeln.

3 «Der Verein für die Herausgabe des Katholischen Kirchengesangbuches der Schweiz» wurde am 5. Mai 1965 von der Schweizer Bischofskonferenz SBK gegründet.

Weiteres Vorgehen: Die Umfrage zu den pastoralen Zielen des Kirchengesangs läuft bis zum 14. Juni. Die Auswertung der Ergebnisse wird am Hearing vom 3. September präsentiert. Die Festlegung der pastoralen Ziele durch die DOK erfolgt im November. Bis zum Sommer 2021 soll dann die Klärung der Mittel, die zum Erreichen der Ziele nötig sind, erfolgen. Dazu wird am 7. Mai 2021 eine Tagung «Chance Kirchengesang» stattfinden. Link zur Umfrage: www.kirchengesang.spi-sg.ch

Mitglieder «Chance Kirchengesang»:

  • Abt Urban Federer;
  • Arnd Bünker, SPI;
  • Sebastian Bausch, Kirchenmusiker St. Gallen;
  • Peter Spichtig, Co-Leiter Liturgisches Institut der Deutschschweiz (LI);
  • Sandra Rupp Fischer, Fachstelle Kirchenmusik am LI;
  • Birgit Jeggle-Merz, Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft in Chur und Luzern;
  • Martin Hobi, Professor für Kirchenmusik an der Hochschule Luzern
BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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