Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration und gibt sie an ihren Schreiber weiter. Um 1151, unbekannter Künstler. Miniatur aus dem Rupertsberger Codex des Liber scivias (Bild: Wikimedia)

 

 

O Feuer, Geist, Tröster,
Leben des Lebens aller Welt,
heilig bist du, du belebst die Geschöpfe.
Heilig bist du, du salbst die gefährlich Geschwächten,
heilig bist du, du reinigst die stinkenden Wunden.
Belebender Raum der Heiligkeit,
Feuer der Liebe,
o süsses Schmecken in unserem Inneren,
in unsere Herzen giesst Du ein den Wohlgeruch
der guten Kräfte.
O reinster Quell, in dem wir betrachten,
wie Gott die Entfremdeten sammelt und
die Verlorenen sucht.
O Schutzraum des Lebens
und Hoffnung der Glieder auf Einheit
und o Gürtel der Ehrbarkeit, heile die Seligen.
schütze die, die vom Feind, heile die Seligen.
Schütze die, die vom Feind gefangen sind,
und befreie, die gefesselt sind,
die göttliche Kraft will sie heilen.
Stärkster aller Wege, der alles durchdringt,
in den höchsten Höhen, auf der Erde und
in allen Tiefen.
Du vereinigst alles.
Durch dich ergiessen sich die Wolken, fliegt die Luft,
haben die Steine Feuchtigkeit,
bildet das Wasser Bäche
und bringt die Erde lebendiges Grün hervor.
Du erziehst auch die Gelehrten und
machst sie glücklich durch weise Inspiration.
Darum sei dir Lob, der du der Klang des Lobes bist
und die Freude des Lebens und die Hoffnung und grosse Ehre.
Du gibst die Gaben des Lichtes.

(Hildegard von Bingen)

 

 

Quelle: Zátonyi, Maura (Hg.), Das grosse Hildegard von Bingen Lesebuch. Worte wie Feuerzungen, Freiburg i. Br. 2022, 146.

Banner gratis Probeabo bestellen

Editorial

Wer bist Du?

«Wer bist Du, süsses Licht, das mich erfüllt / Und meines Herzens Dunkelheit erleuchtet?» Wer bist Du? Mit dieser Frage beginnt Edith Stein ihren siebenstrophigen Hymnus auf den Hl. Geist (1937). Sie tastet sich fragend nach seinem Geheimnis durch die weiteren Strophen: «Bist Du das süsse Manna … der Strahl … der Meister …?» Die Fragen Edith Steins und ihre Bilder regen mich an, mich selbst zu fragen: Wer ist der Hl. Geist, die Hl. Geisteskraft für mich? Welche Bilder kommen meinen Erfahrungen und meinem Verstehen am nächsten? Finde ich bei Hildegard von Bingen passende Bilder? Edith Steins Antworten wurzeln in der Bibel und münden jeweils am Schluss jeder Strophe in eine Anrufung. Mit den biblischen Bildern bekennt sie, wer die Hl. Geisteskraft für sie persönlich ist. In der ersten Strophe ist sie wie eine «Mutter Hand», die sie leitet und ihrem Leben Richtung gibt. «Und liessest Du mich los, so wüsste keinen Schritt ich mehr zu gehen.» Sie fühlt sich bei ihr geborgen. Sie ist wie ein «Raum», in dem sie aufgehoben ist. Die Geborgenheit führt zu einer Nähe, die ihr näher ist, als sie sich selbst – «Und doch ungreifbar und unfassbar / Und jeden Namen sprengend». Vor diesem Geheimnis ruft sie ihn an: «Heiliger Geist – Ewige Liebe.» Liebe Leserin, lieber Leser, wer ist der Hl. Geist, die Hl. Geisteskraft für Sie? Ich wünsche Ihnen ein frohes Pfingstfest reich an Geistesgaben.

Maria Hässig