Häresie

«Der Sieg der Wahrheit über die Häresie» von Pieter Paul Rubens (1577–1640). Öl auf Leinwand, ca. 1625. Sammlung Museo Nacional del Prado, Madrid (E). (Bild: Wikimedia)

 

«Durch die gegenwärtigen Zeitverhältnisse dazu aufgefordert, erhebe ich auch den Mahnruf: Wir dürfen uns über die gegenwärtigen Häresien nicht verwundern, weder darüber, dass sie existieren: denn ihr Erscheinen wurde verkündet, noch darüber, dass der Glaube bei einigen Christen Schiffbruch durch sie leidet: denn sie sind zu dem Ende da, um dem Glauben Versuchungen zu bereiten und ihn eben dadurch auch seine Bewährung finden zu lassen. Daher ist es töricht und gedankenlos, wenn manche daran Anstoß nehmen, dass die Häresien so viel Macht haben. Welche würden sie denn haben, wenn sie nicht existierten? Wenn ein Ding überhaupt einmal des Daseins teilhaftig geworden ist, so empfängt es mit dem Zweck, um dessentwillen es da ist, auch die Wirkursächlichkeit, um derentwillen seine Existenz nötig wurde.

So ist es auch mit dem Fieber, das unter den übrigen todbringenden und qualvollen Zufällen recht eigentlich dazu bestimmt ist, den Menschen aufzureiben; wir wundern uns weder, dass es existiert – denn es existiert eben –, noch darüber, dass es den Menschen aufreibt; – denn dazu eben existiert es. Wenn wir uns also darüber entsetzen, dass die Häresien, die zur Lähmung und zum Verderben des Glaubens auftreten, dies auch zu bewirken vermögen, so müssten wir uns erst darüber entsetzen, dass sie überhaupt existieren; denn entsprechend ihrem Sein haben sie ihre Wirksamkeit und entsprechend ihrer Wirksamkeit ihr Sein, Das Fieber, das, wie bekannt, seiner Ursache und Wirkung nach ein Übel ist, verabscheuen wir mehr, als dass wir uns über seine Wirkungen verwundern, und hüten uns so viel als möglich davor, da es nicht in unserer Macht steht, es zu vernichten.

Die Häresien aber bewirken den ewigen Tod und den Brand eines schlimmeren Feuers, und doch ziehen einige es vor, sich darüber zu verwundern, dass sie diese Macht haben, anstatt dieser Macht aus dem Wege zu gehen, obwohl letzteres doch in ihrer Kraft steht. Sie würden übrigens keine Macht besitzen, wenn man sich nicht darüber wunderte, dass sie solche Macht besitzen. Denn entweder nimmt man an ihnen Ärgernis, indem man sich über sie verwundert, oder man nimmt erst an ihnen Ärgernis und gerät darum über sie in Staunen, als ob ihre große Macht von einer ihnen zugrundeliegenden Wahrheit stamme. Ja, es ist allerdings etwas Wunderbares, dass das Böse seine Macht hat, aber nur darum, weil die Häresien bei denen große Stärke besitzen, welche keine Stärke im Glauben besitzen. Im Faust- oder Gladiatorenkampf siegt einer sehr oft, nicht, weil er tapfer ist oder nicht besiegt werden könnte, sondern weil der besiegte Gegner schwach von Kräften war. Wenn dieser Sieger nachher einem recht kräftigen Gegner gegenübergestellt wird, so zieht er als Besiegter von dannen. Gerade so erlangen die Häresien ihre Macht nur durch die Schwäche mancher Leute, während sie keine Macht haben, wenn sie auf einen recht kräftigen Glauben stoßen.»

Tertullian

 

 

Quelle: Tertullian (160–220), Die Prozesseinreden gegen die Härektiker (BKV)/de praescriptione haereticorum. Übersetzt von Heinrich Kellner, 1912/1915, übertragen durch Roger Pearse, 2003, 204.

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Editorial

Warheit

Wenn wir Termini wie «Häresie» und «Ketzerei» benutzen oder benutzt hören, dann geht es immer um die Frage der Wahrheit. Wahrheit ist ja nicht nur das Gegenteil von bewusster Lüge, sondern im Vollsinn beschreibt sie das absolut Gültige und Richtige. Nun könnten wir schon streiten, ob solches im Umfeld von Glauben und Religion überhaupt möglich ist. Ich lasse die Frage offen und wende mich den beiden Philosophen zu, die meines Erachtens die beste Definition dessen, was «Wahrheit» ist und meint, erarbeitet haben. Für Immanuel Kant (Kritik der reinen Vernunft, 1781) ist Wahrheit nur in komplett geschlossenen theoretischen Systemen, wie es etwa die Mathematik oder die abstrakte Logik sind, möglich. Und es stimmt: Eine Aufgabe in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, ein Führen einer doppelten Buchhaltung, und wir haben sie, die Wahrheit. Der Lehrer schrieb an die Tafel: Qed. Zweihundert Jahre später erweiterte Ludwig Wittgenstein Kants Idee in den Bereich des Spekulativen hinein («Philosophische Untersuchungen», 1953). Innerhalb einer geschlossenen Gruppe von Menschen, die sich sowohl über die Definition wie die Anwendung ihrer Begriffe einig sind, entsteht ein internes «Sprachspiel». Und in einem solchen Sprachspiel ist Wahrheit möglich. Kommt nur ein Fremder, ein Zweifelnder dazu, ist sie dahin.

Heinz Angehrn