Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechts

Bild: Christian Ohde; Chromorange

 

Es gibt das Vergehen des spirituellen Missbrauchs ohne Verknüpfung mit einem sexuellen Missbrauch. Dies kommt erst langsam ins öffentliche Bewusstsein. Meine Beobachtung ist, dass es meist gar keine Fragestellung  für Ordensleute oder kirchliche Verantwortungsträger ist, weder für sie persönlich noch in ihrer Gemeinschaft. Manche reagieren mit Abwehr: «Das gibt es bei uns nicht.» Es ist entweder ein Tabu oder häufig noch gar kein Thema. Selbst Betroffene erkennen oft gar nicht oder sehr lange nicht, dass es sich bei dem, was sie erleben, um spirituellen Missbrauch handelt.

Spiritueller Missbrauch meint den unethischen oder schädlichen Gebrauch von geistlicher Macht oder geistlicher Autorität unter Anwendung von spirituellen und theologischen Inhalten und Praktiken. Dabei werden die spirituellen, psychosozialen und physischen Rechte Einzelner oder ganzer Gruppen missachtet, verletzt und unterdrückt.
Man spricht von geistlichem Missbrauch, spirituellem Missbrauch,  Missbrauch geistlicher Macht, Missbrauch geistlicher Autorität, Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechtes usw. Je nach Begriffsverwendung und Definition gerät eher der Täter / die Täterin und die Struktur oder die missbrauchten Rechte auf geistliche Selbstbestimmung der Betroffenen in den Blick.

Die Deutsche Bischofskonferenz nennt Indizien, an denen man spirituellen Missbrauch erkennen kann, z. B. mittels spiritueller und theologischer Inhalte werden Betroffene manipuliert und in ihrer spirituellen Autonomie verletzt. Betroffene werden isoliert von Familien und Freunden oder auch innerhalb einer Glaubensgemeinschaft, in dem ihnen Informationen vorenthalten werden und ihre Kommunikation kontrolliert und beschränkt wird. Der Missbrauch findet in einem geschlossenen System und in einer elitären Gegenwelt statt: «Wir gegen die anderen.» Religiöse Wertvorstellungen und Praktiken sowie religiöse Autoritätspersonen werden ideologisiert und sprechen vermeintlich mit der Stimme Gottes.

Die Auswirkungen von spirituellem Missbrauch können verheerend sein. Betroffene erleben häufig ein emotionales Trauma, das ihr Selbstwertgefühl, ihre psychische Gesundheit und ihre Beziehungen schädigt. Das Wiederherstellen des Vertrauens in ihre eigene Intuition und Spiritualität kann ein langer und herausfordernder Prozess sein. Dies veranschaulicht das neu erschienene Buch «Selbstverlust und Gottentfremdung» eindrücklich.

Verantwortliche in einem geistlichen Dienst, in Orden und kirchlichen Gemeinschaften sind gefordert, sich damit auseinanderzusetzen, dass geistlicher Missbrauch überall möglich ist, auch in ihrem engsten Umfeld.  Es gilt genau hinzuschauen und bei Bedarf entschieden zu handeln. Toxische Strukturen sind aufzubrechen und Täter wie Täterinnen ihrer Ämter und Aufgaben zu entheben.  Betroffene sind anzuhören, und es braucht für sie das Angebot einer langfristigen professionellen psychosozialen Begleitung.

Elisabeth Fink-Schneider*

 

* Elisabeth Fink-Schneider (Jg. 1963) ist Ansprechperson für das Thema Missbrauch geistlicher Macht im Bistum St. Gallen. Sie ist Theologin, geistliche Begleiterin, geistliche Supervisorin und Mitglied im Leitungsteam des Lehrganges ignatianische Exerzitien und geistliche Begleitung im Lassalle-Haus.

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Editorial

Verwechslungen


Mit seinem Artikel «Für mehr Wahrhaftigkeit im Gottesdienst. Sprachliche Stolpersteine vermeiden» (Gottesdienst 19/2023) spricht mir Manuel Uder aus dem Herzen. Einen ersten Stolperstein gebe es gleich zu Beginn des Gottesdienstes. Ich selbst reagiere allergisch auf Sätze wie «Grüezi mitenand», die ich nach dem Orgelspiel und der liturgischen Begrüssung zu hören bekomme. Sie machen die Dramaturgie zunichte. Nach dem Orgelspiel und der liturgischen Begrüssung bin ich parat für ein geistliches Wort und dann folgt ein alltägliches «Ich begrüsse Sie zu diesem Gottesdienst». Manuel Uder fragt in seinem Artikel: «Wer ist Gastgeber dieses Gottesdienstes? Wer hat demnach zu begrüssen? […] Beim Gottesdienst ist Gott der Gastgeber.» Der Leiter oder die Leiterin des Gottesdienstes steht auf der Seite des Volkes und mit ihm Gott gegenüber. Das Grüezi zeigt eine Verwechslung der Rollen an. Der zweite Stolperstein ist eine Verwechslung der Personalpronomen ich und wir. Oft höre ich ein vereinnahmendes Wir, wo ein Ich am Platz wäre. «Wir reflektieren heute miteinander in der Predigt über das Evangelium von den Arbeitern im Weinberg». Einspruch – der Seelsorger wird in der Predigt seine Gedanken vortragen, ich werde sie hören und vielleicht den einen oder anderen Gedanken mitnehmen und über ihn nachdenken. Freigesprochene Texte im Gottesdienst brauchen eine besondere Aufmerksamkeit.
 

Maria Hässig