Zur Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes

Dr. oec. HSG Marius Klauser und Dr. Wolfgang Bürgstein kreuzen die Klingen.

PRO: Dr. oec. HSG Marius Klauser (Jg. 1976) ist seit 2011 Direktor und CEO von EXPERTsuisse sowie Geschäftsführer der allianz denkplatz schweiz (links). KONTRA: Dr. Wolfgang Bürgstein (Jg. 1961) ist Ökonom und Theologe. Seit 2003 arbeitet er für die Nationalkommission Justitia et Pax.

 

PRO

«Bewährte Arbeitsformen sind zu legalisieren»

Die «plattform»1 als Vertreter relevanter Angestelltenverbände und die «allianz denkplatz schweiz»2 als Vertreter besonders betroffener Branchen legen eine Sozialpartnerlösung auf den Tisch, welche den Menschen ins Zentrum stellt.

Die Überlegungen von «plattform» und «allianz» gehen auf das Jahr 2016 und die damals von Konrad Graber, ehemaliger Ständerat Kt. Luzern (CVP), eingereichte parlamentarische Initiative3 (Pa.Iv.) zum Erhalt bewährter Arbeitszeitformen zurück. Auslöser war die per 1.1.2016 massive Situationsverschärfung: Der zuvor jahrzehntelange liberale Vollzug des Arbeitsgesetzes wich einer buchstabengetreuen Auslegung durch die Arbeitsinspektoren. Dadurch sind die Defizite des über 50-jährigen Arbeitsgesetzes unübersehbar geworden und Tausende von Menschen dürfen seither nicht mehr so arbeiten, wie sie selber möchten. Persönliche Bedürfnisse und Familienanliegen müssen zurückgestellt oder es muss getrickst werden, um den Gesetzesverstoss zu vertuschen. Insgesamt ein unhaltbarer Zustand für eine aufgeklärte Gesellschaft.

Für hochqualifizierte Wissensarbeitende

Personengruppen wie Wissenschaftler, Künstler, Pfarrer, Landwirte sowie Angestellte von Bund, Kantonen, Gemeinden sind alle längst vom veralteten Arbeitsgesetz ausgenommen. Bestmögliche Arbeitsbedingungen brauchen aber auch hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte. Diese Wissensarbeitenden sind die Pfeiler für Innovation und einen international wettbewerbsfähigen Denkplatz Schweiz. Ihre Arbeitsplätze haben eine hohe Mobilität. Ein gesellschaftlicher Wandel, einhergehend mit einem Strukturwandel, machen die flexible Einteilung der Arbeit möglich und wünschenswert. Warum soll ein Vater nicht am Freitagnachmittag bei Sonne einen Kindergeburtstag betreuen und am regnerischen Sonntagabend, wenn die Kinder schlafen, nochmals arbeiten dürfen? Die Kirche war hier innovativer: Sonntagsgottesdienste wurden um Samstagabendgottesdienste ergänzt. So können Familien am verschneiten Samstag in die Kirche und am Sonntag bei Sonnenschein den Tiefschnee geniessen.

Legalisieren – nicht liberalisieren

Autonomes, selbstbestimmtes Arbeiten muss auf Basis eines echten Jahresarbeitszeitmodells möglich sein. Dafür braucht es klare Regeln: Individuelle Zustimmung, unterjährige Kompensationsmöglichkeit, gestärkter Gesundheitsschutz. Es geht darum, seit Jahrzehnten bewährte Arbeitsformen zu legalisieren und nicht darum, zu liberalisieren resp. mehr zu arbeiten. Auch der Gesundheitsschutz wird mit dem Vorschlag gestärkt, und zwar gemäss dem aktuellsten Stand der Wissenschaft zu den zwei Gesichtern der Arbeit – den Belastungen und den Ressourcen. Auch die aus der vom Bundesrat beauftragten Studie der Universität Genf (Prof. Bonvin, 2019) ableitbaren Forderungen – Autonomie, individuelle Zustimmung, Zeiterfassung – werden allesamt erfüllt.

Lösung für einen kleinen Nutzerkreis

Die Wirtschafts- und Abgabekommission des Ständerats hat bei all den Gesetzesvorstössen der letzten Jahre den Fokus auf die Pa.Iv. Graber gesetzt, welche die Einführung eines besonderen Jahresarbeitszeitmodells für Personen mit über 120'000 Bruttojahreseinkommen oder einem höheren Bildungsabschluss fordert. Dieses Modell könnten gemäss der Forschungsstelle Sotomo max. 15 Prozent der Arbeitnehmenden in der Schweiz nutzen. Aktuell wird geprüft, ob die Anliegen der Pa.Iv. Graber auch auf dem Verordnungsweg umgesetzt werden können. Hierzu haben Gespräche zwischen dem SECO und den für die avisierte Nutzergruppe zuständigen Sozialpartnern «plattform» und «allianz» stattgefunden. Eine Lösung mit Fokus auf die am meisten betroffenen Branchen wie Informations- und Kommunikationstechnologie, Beratung und Wirtschaftsprüfung würde die Zahl der maximalen Nutzer auf 5 Prozent reduzieren.

Wer den Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, der wünscht sich nicht Grabenkämpfe zwischen den traditionellen Sozialpartnern, sondern eine auf Wertschätzung aufgebaute innerbetriebliche Sozialpartnerschaft, wo es in den Führungs- und Arbeitsbeziehungen um das echte Wohl der Menschen geht. Hierzu bietet der Vorschlag von «allianz» und «plattform» einen wirksamen Rahmen, der selbstbestimmtes Arbeiten und damit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zeitgemäss ermöglicht.

Marius Klauser


KONTRA

«Die Ausweitung der Sonntagsarbeit ist problematisch»

Die Sonntagsallianz4 nimmt die individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Flexibilisierung der Arbeitszeit in den Blick. Sie macht sich stark für den Erhalt des Sonntags als einen gemeinsamen Ruhetag.

Unter dem Titel «Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle» reichte Konrad Graber 2016 eine parlamentarische Initiative (PI) ein, die für leitende Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Fachspezialistinnen und Fachspezialisten in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen eine deutlich flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit erlauben soll, als dies das bestehende Arbeitsgesetz (ArG) vorsieht. Konrad Graber begründet seinen Vorstoss damit, dass die Vorschriften des Arbeitsgesetzes nicht mehr zeitgemäss seien und den heutigen Erfordernissen von Arbeitgebern insbesondere im Dienstleistungsbereich und den Bedürfnissen von Familien nicht mehr entsprechen. Zu diesem Anliegen von Konrad Graber hat die «Sonntagsallianz» Stellung bezogen, weil die vorgesehene Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes auch eine Ausweitung der Sonntagsarbeit zur Folge hätte.

Die Konsequenzen

Nach Einschätzung der «Sonntagsallianz»5 dürfte die weitere Aufweichung des Verbots der Sonntagsarbeit für Fachspezialisten und andere im Dienstleistungsbereich für rund 40 Prozent der Bevölkerung Sonntagsarbeit ermöglichen. Diese Arbeit erfolgt in vielen Fällen zu Hause am privaten Schreibtisch und wäre deshalb auch kaum mehr zu überprüfen. Zunehmende Arbeitsbelastung und Selbstausbeutung sind die Folge. Die bewährte Trennung von Arbeit und Freizeit wird dadurch diffuser. Die Erwartungen zur Bereitschaft für Sonntagsarbeit steigen. Sonntagsarbeit wird immer mehr zum Normalfall und die Kultur der allgemeinen Sonntagsruhe geht zusehends verloren. Arbeit am Sonntag wird zu einer neuen Selbstverständlichkeit.
Auch aus arbeitsmedizinischer Sicht ist die Ausweitung der Sonntagsarbeit problematisch. Ein individueller Freizeitausgleich ist nicht gleich zu bewerten wie eine gemeinsame Freizeit. Der gemeinsame arbeitsfreie Sonntag schafft einen Rhythmus, der eine bessere Erholung ermöglicht als ein individueller Freizeitausgleich. Ebenso wichtig ist eine möglichst zeitnahe Kompensation von Belastungsspitzen für Gesundheit und Wohlbefinden. Ohne echte Erholungsphasen steigt die Gefahr gesundheitlicher Probleme wie Burnouts, Bluthochdruck usw.
Bereits 2005, bei der Abstimmung über die «Ladenöffnungszeiten in Zentren des öffentlichen Verkehrs» (Art. 27 Abs. 1ter ArG), sprach die «Sonntagsallianz» von einer «Salamitaktik» zur Aushöhlung des Verbots der Sonntagsarbeit. Die parlamentarische Initiative von Konrad Graber bestätigt diese Einschätzung.

«Sonntag schützen. Gemeinschaft stärken»6

Der Sonntag als Unterbrechung der Arbeitswoche stellt eine gesellschaftliche Errungenschaft dar, die sich über viele Generationen bewährt hat. Das Verbot der Sonntagsarbeit schafft einen gemeinsamen Rhythmus, «eine ausgewogene Balance zwischen Ruhe und Arbeit».7 Der Sonntag ist die Zeit für Anwesenheit − eine gemeinschaftliche, soziale Zeit, nicht vorgegebene und vorstrukturierte, sondern eine eigene Zeit.
Die Position der Kirchen zur Ausweitung der Sonntags- arbeit orientiert sich unter anderem an der Aussage Jesu: «Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat» (Mk 2,27). Der Sonntag schafft Freiräume, die sonst schmerzlich fehlen würden: für Christinnen und Christen die Möglichkeit der gemeinsamen Feier des Gottesdienstes; die Erfahrung der in Christus gestifteten Gemeinschaft – «es gibt kein Christsein jenseits von Gemeinschaft»8; für Familien, die solche gemeinsame Zeiten brauchen; und für unser soziales Miteinander als Mittel gegen soziale Desintegration und Ungleichzeitigkeit.

Der Sonntag hat einen fundamentalen Stellenwert für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Er stellt auch die Ökonomie in einen grösseren Kontext und zeigt, dass wirtschaftliche Tätigkeiten zwar ihren wichtigen, aber begrenzten Raum haben. Nicht alle Lebensbereiche und -zeiten dürfen ökonomisiert werden: Der Sonntag ist für die Menschen da! Mit dem Sonntag sind zentrale – weit über den religiösen Bereich hinausgehende – Werte verbunden, für die sich die Kirchen einsetzen und die nicht zur Disposition gestellt werden dürfen.

Wolfgang Bürgstein

 

1 Mehr zu «plattform» siehe: www.die-plattform.ch

2 Mehr zur «allianz denkplatz schweiz» siehe: www.allianz-denkplatz-schweiz.ch

3 Den Wortlaut der parlamentarischen Initiative und den aktuellen Stand der Debatte finden sich unter: www.parlament.ch/de/ratsbetrieb

4 Mehr zur Sonntagsallianz siehe: www.sonntagsallianz.ch

5 Die ausführliche Stellungnahme findet sich unter www.sonntagsallianz.ch

6 Vgl. www.juspax.ch/de/dokumente/publikationen/sonntag-schuetzen-gemeinschaft-staerken

7 Wort der Kirchen (2001): Miteinander in die Zukunft», § 126.

8 Sonntag schützen, Gemeinschaft stärken (2001), 4.