Sonntagsheiligung – glauben und gehorchen

Feiertagsruhe gehört zur Geschichte von Zivilisation und Religion. Aktuelle politische Debatten lassen eine historische Vergewisserung als ratsam erscheinen: Wer steht ein für Feiertagsruhe und wer unterläuft die Praxis?

Die Möglichkeit, kollektiv auf die in Gen 3,17 der condition humaine zugeordnete Arbeit zu verzichten, obwohl sie möglich und sinnvoll wäre, setzt ein erhöhtes Mass an Autonomie gegenüber der natürlichen Umwelt voraus. Nur wer seine Versorgung planen und organisieren kann, ist dazu in der Lage. Motivation kommt unter anderem aus der Erfahrung eigener Begrenztheit: Was mir zur Verfügung steht, habe ich nicht allein durch meiner Hände Arbeit erschaffen, sondern es ist mir auch gegeben und geschenkt. Regelmässig geübter Arbeitsverzicht steht in der religiösen Welt symbolisch für Respekt und Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer, funktional für gemeinsam geschaffenen Freiraum zum Gottesdienst.

Grundgelegt in der jüdischen Tradition, ist diese Praxis dem Christentum eingeschrieben, seit es als eigenständiges Bekenntnis besteht. Der Zeitlauf ist gegliedert: Der religiöse Mensch kennt einen nicht von der Natur bestimmten Rhythmus von Arbeit und Arbeitsruhe. Zeitweiliger Verzicht auf Broterwerb korrespondiert strukturell mit dem zeitweiligen Verzicht auf Nahrungsaufnahme; denn Fasten- und Feiertagsregeln stehen zueinander in Beziehung – auch dies eine verbindende Gemeinsamkeit jüdischer und christlicher Religiosität.

Verbindliche Arbeits- und Ruhezeiten

Als in der Spätantike die christliche Religion zur öffentlichen und dann staatlichen Einrichtung wurde, erhielt die kollektive, verbindliche Abfolge von Arbeit und Ruhe prominente Bedeutung. In der spätantiken Religionsgesetzgebung wurde die Ehrbezeugung gegenüber der höchsten Gottheit erstmals mit einem öffentlichen Ruhetagsschutz versehen. Die bis heute im Deutschen gebräuchliche Bezeichnung als «Sonntag» bewahrt sprachlich eine ursprünglich wohl bewusst erzeugte Ambivalenz von Bezug zur unbesiegten Sonnengottheit und wöchentlicher Vergegenwärtigung der Auferstehung Christi; die ursprünglich julianische Siebentagewoche und die aus der jüdischen Tradition stammende Zählweise der Wochentage liessen sich miteinander verbinden. Das damalige Bedürfnis, die Zeit öffentlich über das Funktionale hinaus zu strukturieren, beeinflusste generell die kirchliche Praxis: Zeitgleich mit dem arbeitsfreien Sonntag, und wie dieser inspiriert von der Verehrung der römischen Sonnengottheit, kam auch das zuvor völlig unbekannt gewesene Weihnachtsfest in den liturgischen Kalender. Die Frage nach der richtigen Berechnung des Osterdatums erschütterte die Kirche zeitweise fast stärker als jene nach der richtigen Christologie. Sie wurde zu einem der ersten Themen, für dessen Lösung die Gemeinde von Rom gegenüber anderen Kirchen eine Art Durchsetzungsfähigkeit beanspruchte.

Sonntagsruhe und Herrschaftsinteresse

Mit der Durchsetzung des Christentums in Europa gewann die Ehrung des Sonntages durch gemeinsames Niederlegen der Arbeit soziale Relevanz. Verschiedene Indizien lassen allerdings vermuten, dass nach der schweren kulturellen und ökonomischen Zäsur am Übergang zum Mittelalter die Praxis höchstens in den Klöstern aufrechtzuerhalten war. Ausserhalb ihrer Mauern rückte die Sorge um das Decken der primären Bedürfnisse in den Vordergrund. Für kulturelle Aktivität blieb wenig Freiraum, Praktikabilität und Plausibilität der zur höheren Ehre Gottes beobachteten Sonntagsruhe schwanden. So wurde ihre Beobachtung zu einem zentralen kirchlichen Anliegen und sollte es über Generationen hinweg bleiben.

Im späten Mittelalter riefen Prediger die Sonntagsruhe in Erinnerung und sagenhafte Überlieferungen berichteten moralisierend, welche Strafwunder Ruhetagsfrevler treffen konnten. Mit gleichsam plakativen «Feiertagschristus»-Darstellungen sollten Gläubige in Kirchengebäuden an die Praxis erinnert werden: Der leidende Gottesknecht ist dargestellt inmitten von Werkzeugen mit der Bedeutung: Wer solches Gerät am Sonntag oder am Feiertag benutzt, trägt bei zum Leiden Christi. Die Symbolsprache lässt erkennen, wie sehr es dem Ursprung nach um Verzicht auf Aktivitäten zur Subsistenzerhaltung geht; denn als «Folterinstrumente» vorgeführt sind stets Werkzeuge des bäuerlichen und des handwerklichen Lebens – keine Bücher und keine Schreibutensilien.

In der Frühen Neuzeit avancierte die Heiligung des Sonntages erst recht zum Anliegen der Obrigkeit; denn Konfessionalisierung – reformiert wie katholisch – lässt sich auch verstehen als Versuch zur umfassenden Sozialdisziplinierung. Seit dem 16. Jahrhundert bildete sich eine neue Untertanengesellschaft aus. Geistliche und weltliche Obrigkeiten suchten das individuelle Leben umfassend zu regulieren und zu beaufsichtigen, in besonderer Weise das religiöse Leben. Sie liessen jeden Menschen einzeln in den neu angelegten Pfarrbüchern genauestens verzeichnen und registrieren, sie verfeinerten die Ehegesetzgebung bis hinein in unappetitliche Details und setzten sie strengstens durch. Auf das Pingeligste liessen sie kontrollieren, ob alle Gläubigen mindestens einmal jährlich zur Beichte gingen und die Kommunion empfingen. Obwohl es dabei um Sakramente und damit um Zusprache von Heil und Gnade ging, war allen Ernstes die Rede von Erfüllung der «Osterpflicht», später auch der «Sonntagspflicht»!

Untertanen kämpfen um Feiertage

Hinsichtlich der Einhaltung von Feiertags- und Sonntagsruhe allerdings entwickelte die Epoche eine bemerkenswerte Ambivalenz. Auf der einen Seite wirkte der regulierende Einfluss der Obrigkeit: Sie ermahnte die Gläubigen zur Beobachtung der Feiertagsruhe. Verlangte die Witterung, dass in einem Dorf trotz Ruhetag die Ernte eingebracht wurde, so erforderte dies vorausgehende, von der Kanzel verkündigte Dispensen. Deutlich stärker aber wirkte die Barockmentalität: Kirchenfeste, Heiligengedenktage, Bittgänge und Bruderschaftsfeiern erfreuten sich einer singulären Beliebtheit – so sehr, dass die Obrigkeiten Arbeitsruhe meist gar nicht eigens zu verordnen brauchten. Im Gegenteil: Frömmigkeit und Sinnenfreude wirkten geradezu symbiotisch, es entwickelte sich eine eigentliche «Mussepräferenz» (Peter Hersche). Während Reformierte auch durch ihrer Hände Arbeit Gott die Ehre erwiesen, legten die Katholischen gerade umgekehrt zu diesem Zweck das Werkzeug nieder. Reliquienprozessionen, Theaterspiele, Volksmissionen und neue Wallfahrten zu den Stätten der zahlreich überlieferten Wundererscheinungen liessen die Gelegenheiten dafür förmlich explodieren. Mit der unvermeidlichen Folge, dass zwischen reformierten und katholischen Territorien bald ein wahrnehmbares Wohlstandsgefälle entstand.

Aufklärer aller Schattierung gaben Gegensteuer: In ganz Europa erliessen weltliche Herren, Bischöfe und selbst der Papst Vorschriften zur Straffung der Feiertagskalender. Auch wenn die Sonntagsruhe davon nicht betroffen war, zeigt sich darin eine Umkehr der Interessenlage: An der Arbeitsruhe hingen nun die Untertanen, insbesondere die Landbevölkerung. Sie wehrte sich gegen die verordneten Kürzungen mit Missachtung und Protesten, im Kanton Luzern wetterten Bauern gegen die in ihren Augen «lutherische» Gesetzgebung. Beschränkte und verbotene Feiern liess man sich nicht so leicht nehmen – für sie stieg man auf die Barrikade und riskierte im Extremfall gar handgreifliche Auseinandersetzungen.

Krise in der Moderne

Der moderne, im 19. Jahrhundert geschaffene Bürgerstaat beanspruchte für sich von Anfang an die autonome Regelung von Arbeits- und Ruhezeiten. Zunächst führte er trotz nach und nach etablierter Bekenntnisfreiheit die religiösen Traditionen fort und schützte Sonntag und kirchliche Feiertage mit der eigenen Gesetzgebung. Allerdings liess sich die überkommene Ordnung je länger, je weniger mit den Arbeitsbedingungen der Industrie- und dann der Dienstleistungs- gesellschaft vereinbaren. Sie kamen unter Druck und erfuhren im Laufe der Zeit mehr und mehr Beschränkungen. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts tat die Entwicklung der Freizeitkultur ein Übriges und die Plausibilität schwand auch aufseiten der Gläubigen beträchtlich. Eine weitreichende mentale Säkularisierung führte dazu, dass öffentliche Arbeitsruhe heute primär als gewerkschaftliches Anliegen, als Bedürfnis im Interesse der «Work-Life-Balance» oder als sozialpolitisches Postulat gilt.

Die spezifisch christliche Tradition bedarf einer informierten Reform und einer neuen Ausrichtung, damit sie wieder an Bedeutung gewinnen, ihrem ursprünglich religiösen Anliegen gerecht werden und der Gesellschaft wesentliche Impulse vermitteln kann.

Markus Ries

 

Literatur

  • Halter, Hans (Hg.), Sonntag – der Kirche liebstes Sorgenkind. Analysen, Deutungen, Impulse, Stuttgart 21984;
  • Hersche, Peter, Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter I-II, Freiburg / Basel / Wien 2006;
  • Wicki, Hans, Staat, Kirche, Religiosität. Der Kanton Luzern zwischen barocker Tradition und Aufklärung (Luzerner Historische Veröffentlichungen Bd. 26), Luzern / Stuttgart 1990.
Markus Ries

Markus Ries

Prof. Dr. Markus Ries (Jg. 1959) studierte Theologie in Luzern, Freiburg i. Ü. und München. Seit 1994 ist er Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.