«Wir stehen auf einem vorläufigen Höhepunkt»

Welche Wirkungen haben mobile digitale Technologien auf Mensch, Gesellschaft und Arbeit? Sarah Genner beschäftigt sich in ihrer Forschung insbesondere mit
dieser Frage. Mit ihr sprach die SKZ.

Dr. Sarah Genner ist Medienwissenschaftlerin, Digitalexpertin und Dozentin. Sie lehrt in Teilzeit an der Pädagogischen Hochschule Zürich Medien und Informatik, ist Gastdozentin an verschiedenen Hochschulen und Mitglied der SRG-Bildungskommission. Darüber hinaus ist sie Verwaltungsrätin der Feinheit AG.

 

SKZ: Die zunehmende Digitalisierung führt zu einem laufenden Gestaltwandel der Arbeit. Aufgrund der mobilen Technologien werden die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Arbeitsort und Privatraum fliessend. Wo steht diese Entwicklung?
Sarah Genner: Bereits vor dem digitalen Zeitalter gab es Heimarbeit oder Berufe, in denen eine Grenzziehung zwischen Privat- und Berufsleben kaum möglich war: in der Politik, als Unternehmer, Landarzt oder Hebamme zum Beispiel. Mit der Popularisierung von Laptops und Breitband-Internet wurde in der Schweiz das Arbeiten im Homeoffice beliebter. Mit dem Aufkommen von BlackBerrys1 und Smartphones in den Nullerjahren begann sich Privates und Berufliches für breitere Kreise der Schweizer Bevölkerung zu vermischen. Immer noch gibt es viele Tätigkeiten und Berufe, die man nicht von zu Hause oder unterwegs ausüben kann. Aber mobil-flexibles Arbeiten ist technologisch gesehen besser möglich als je zuvor, und wir stehen vermutlich derzeit auf einem vorläufigen Höhepunkt. Dieses Jahr ganz besonders, weil viele von uns durch die Pandemie erstmals gezwungen waren, auf eine neue Art zu arbeiten.

Inwieweit verlieh die Covid-19-Pandemie dieser Entwicklung einen Schub?
Die Pandemie hat der Entwicklung zusätzlichen Drive verliehen. In vielen Betrieben hiess es bisher: Homeoffice ist bei uns keine Möglichkeit. Nun sehen auch jene, die bisher kritisch eingestellt waren, dass es vermutlich besser möglich ist, als sie dachten. Aber es wird auch sichtbar, wie sehr uns der menschliche Kontakt und der informelle Austausch fehlen. Ebenfalls zeigt sich, dass wir digital nicht auf dieselbe Weise Vertrauen aufbauen können und digitale Kollaborationen eine Herausforderung sind, da die non- und paraverbalen Anteile einer Botschaft fehlen.

Welche Auswirkungen hat die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeiten auf die Gestaltung von Arbeitszeit und Erholungsphasen?
Das hängt stark von Persönlichkeitstypen ab und wie konsequent wir unseren Tag strukturieren. Es gibt auf der einen Seite «Integrators», welche die Vermischung von Arbeit und Privatem mögen. Auf der anderen Seite schätzen die «Separators» die klare Trennung von Berufs- und Privatleben. Integrators und Berufstätige mit einer hohen Autonomie, ihre Zeit und Aufgaben zu gestalten, haben in der Tendenz weniger Mühe mit der Flexibilisierung und sehen eher die Vorteile. Für Separators ist es tendenziell herausfordernder, das Büro zu verlassen und dann wirklich von der Arbeit abzuschalten, wenn sie auf dem Smartphone erreichbar bleiben oder implizit die Erwartung besteht, dass auch abends und am Wochenende E-Mails beantwortet werden.

Was braucht es vom Einzelnen für eine gesunde Balance zwischen Arbeitszeit und Freizeit?
Es zeigte sich in meiner Forschung: Wer gut Nein sagen und sozialem Druck standhalten kann, geht in der Regel gesünder um mit den Herausforderungen der ständigen digitalen Erreichbarkeit. Man muss daran arbeiten, für sich Prioritäten zu setzen: im Privatleben, im Beruf, in bestimmten Projekten. Diese gilt es auszubalancieren. Es braucht einiges an Persönlichkeitsentwicklung, damit man lernt, an den richtigen Stellen Nein zu sagen und sowohl für die persönlichen wie auch beruflichen Prioritäten Verantwortung zu übernehmen.

Gemäss Ihrer IAP-Studie 2017 «Der Mensch in der Arbeitswelt 4.0»2 ist es für fast drei Viertel der Befragten wichtig, Arbeitszeit und Freizeit klar zu trennen. Trotzdem ist die Hälfte der Befragten in der Freizeit für die Arbeitgeberin oder den Arbeitgeber erreichbar. Wie kommt es dazu und wer ist erreichbar und weshalb?
Zu dieser Frage gibt es nur Vermutungen. Meiner Beobachtung nach haben viele Arbeitgebende mit ihren Arbeitnehmenden nicht explizit abgemacht, wann auf welchen Kanälen eine Erreichbarkeit erwartet wird. Im Gegenteil: Viele Vorgesetzte verschicken Nachrichten ausserhalb der Bürozeiten und merken nicht, dass sie damit implizit eine Botschaft mitschicken. Dadurch werden Arbeitnehmende verunsichert: Muss ich wie meine Vorgesetzten auch in den Ferien und am Abend erreichbar sein, wenn ich in dieser Firma bestehen will? Daher rührt der grösste Teil der Erreichbarkeit. Auf der anderen Seite habe ich Aussagen von Arbeitnehmenden, die zu Bürozeiten durch private Aktivitäten wie Kontaktpflege über Whatsapp so oft abgelenkt sind, dass sie ausserhalb der Bürozeiten durch ihre berufliche Erreichbarkeit das wiedergutmachen wollen. Sicher ist: Wir sollten mehr darüber sprechen, wann und über welche Kanäle wir erreichbar sind und das dann konsequent einhalten. Viele beantworten auch E-Mails aus den Ferien, obwohl sie einen Autoreply aktiviert haben. Das ist inkonsequent und dennoch verständlich, weil sie sich vor einer vollen Inbox fürchten. Oft könnten bessere Stellvertreterregelungen dem entgegenwirken.

Wie regeln Sie die Zeiten der Unerreichbarkeit?
In den Ferien und am Wochenende bin ich beruflich offline. Ausserdem habe ich keine beruflichen Push-Meldungen auf dem Smartphone aktiviert. Nachts ist mein Smartphone konsequent nicht im Schlafzimmer.

Inwieweit können Arbeitgebende hier Leitplanken setzen, damit die Ruhezeiten eingehalten werden?
Sie können vor allem explizit machen: Ausserhalb der Bürozeiten muss niemand erreichbar sein – ausser es ist ein abgemachter Pikettdienst. Wer krank ist, arbeitet nicht von zu Hause aus weiter. Wer im Urlaub ist, erhält eine Stellvertretung.

Welche Chancen und Risiken birgt die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes für das soziale und gesellschaftliche Leben?
Manche geniessen es, von ihrer Ferienwohnung aus zu arbeiten. Für berufstätige Eltern ist es oft gleichzeitig ein Fluch und ein Segen: Einerseits können sie Kinder eher abholen oder betreuen, wenn sie krank sind, andererseits reist die Arbeit oft mit in die Ferien. Für das Sozialleben ist es eine Herausforderung, im Hier und Jetzt zu sein. Ein Smartphone in Griffnähe während eines Gesprächs kann gefühlt bedeuten, dass gleichzeitig noch andere im Raum oder am Gespräch beteiligt sind.

Der Sonntag ist gesetzlich ein verbindlicher Ruhetag. Wie lange er sich als Ruhetag noch halten kann, ist offen. Was wären alternative Modelle?
Persönlich bin ich dafür, dass wir das weiterhin einhalten. Es hat sich gesellschaftlich bewährt, einen gemeinsamen Ruhetag zu haben. Ich sehe momentan kaum Alternativen.

Digitale Nomadinnen und Nomaden arbeiten orts- und zeitunabhängig. Ihre Arbeits- und Freizeitgestaltung ist sehr stark flexibilisiert und individualisiert. Inwieweit ist dies ein Arbeits- und Lebensmodell mit Zukunft?
Ich habe einige digitale Nomadinnen und Nomaden kennengelernt. Das sind meist spannende und eher jüngere, reisefreudige Menschen. Fast niemand von ihnen hat eine Familie und eine feste Beziehung. Viele von ihnen sind tendenziell in kreativen Berufen oder selbständig tätig. Daher denke ich, dass es noch mehr davon geben wird, aber dass dieses Modell immer nur für eine Nische ein attraktiver Lebensstil sein wird.

Mit welchen neuen (mobilen) digitalen Technologien ist in den kommenden Jahren zu rechnen? Mit welchen Chancen und Herausforderungen?
Ich habe leider keine Kristallkugel. Wir werden aber noch eine Weile damit beschäftigt sein, die Auswirkungen des mobilen Internets sinnvoll abzufedern. Das bedeutet, dass wir inmitten von Informationsflut und Bildschirmarbeit auf unsere psychische und physische Gesundheit achten. Es bedeutet auch, dass wir noch besser lernen, effizient und rücksichtsvoll digital miteinander zu kommunizieren und zu kollaborieren sowie eine gute Balance mit physischen Treffen zu finden. Ebenfalls sollten wir uns noch mehr mit den Themen Privatsphäre und Cybersicherheit befassen: Viele unserer Daten sind nicht gut geschützt vor dem Zugriff Unbefugter und zunehmend setzen Firmen digitale Überwachungssoftware ein, um ihre mobil-flexiblen Mitarbeitenden zu überwachen. Das sind die zentralen Risiken von für mich immer noch unfassbar faszinierenden und nützlichen Technologien, die nicht weniger als die Vernetzung der Welt ermöglichen.

Interview: Maria Hässig

 

1 BlackBerrys sind Smartphones mit physischer Tastatur der kanadischen Firma Blackberry Limited.

2 Die Studie ist zu finden unter: www.zhaw.ch/storage/psychologie/upload/iap/studie/IAP_STUDIE_2017_final.pdf