Zu heilig für den Frieden?

An die Realisierung der Zweitstaatenlösung glauben nur noch wenige. Alternative politische Lösungsansätze wiederum finden noch keine Mehrheit. Ist der Palästinakonflikt absehbar lösbar?

Der 70. Jahrestag der israelischen Staatsgründung markiert für das palästinensische Volk seine Katastrophe, arabisch Nakba. Im ersten Palästinakrieg (1947–1949) verloren über 700 000 Palästinenser ihre Heimat. Die Erinnerung daran verbindet sich vor allem im Gazastreifen, wo 70 Prozent der zwei Millionen Einwohner in Flüchtlingslagern leben, mit der Erfahrung von Blockade, Gewalt und Elend. Die Menschen im «grössten Freiluftgefängnis der Welt»1 sehen sich von der Welt vergessen und von den eigenen Politikern im Stich gelassen. Die Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem, mit der die USA den alleinigen Anspruch Israels auf das ganze Jerusalem bestätigten, trägt zur Erbitterung der Menschen in Gaza bei. Im «Marsch der Rückkehr», der seit dem 30. März jeden Freitag Tausende von Demonstranten an den Grenzzaun zu Israel führt, gehen Verzweiflung und Zorn eine explosive Mischung ein.

Land gegen Frieden

Allerdings: Wer protestiert, hofft, gehört zu wer- den. Gibt es also Perspektiven jenseits des Rechtes des Stärkeren in dem Land, das zu heilig für den Frieden scheint? Ironischerweise legte Israels Eroberung des Gazastreifens und der Westbank im Sechstagekrieg 1967 den Keim der Vision «Land gegen Frieden». Ihr liegt die Vorstellung von Frieden durch Trennung zugrunde. 1947 hatte die UN-Teilungsresolution keinen Befürworter in der Arabischen Liga gefunden. Doch im Widerstand gegen die israelische Besatzung gewann das nationalstaatliche Streben der Palästinenser Konturen. Die «Zweistaatenlösung» gilt seit dem «Oslo-Friedensprozess» 1993 unter dessen internationalen Sponsoren als alternativlos.

Woran die Verhandlungen über Streitfragen wie den Grenzverlauf zwischen Israel und Palästina, den Status Jerusalems, die Zukunft der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten oder eine Rückkehr der Flüchtlinge scheiterten, ist Gegenstand wechselseitiger Schuldzuweisungen. Zumindest lässt sich feststellen: Auf beiden Seiten führten national-religiöse Fundamentalisten den Anspruch ihres Volkes auf das heilige und darum unteilbare Land auf göttlichen Willen zurück. Die Gegner eines Kompromissfriedens setzten einen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt in Gang, der den anfänglichen Optimismus in tiefes gegenseitiges Misstrauen verkehrte. Die politischen Führungen liessen sie gewähren, anstatt die Gesellschaften auf Kompromisse vorzubereiten, dafür die Konfrontation mit innenpolitischen Widersachern zu riskieren und dabei politische Macht aufs Spiel zu setzen. Sieben Jahre nach dem Aufbruch von Oslo läutete das Scheitern der Verhandlungen über ein Abkommen zur permanenten Lösung des Konflikts im Juli 2000 den Zusammenbruch des Friedensprozesses ein.

Landnahme gegen Terror

Unvermeidlich war dies nicht. Hätte Israel sich dazu durchringen können, die in seinem Besitz befindliche Hauptressource im Friedensprozess zum Zwecke der Konfliktlösung beizusteuern: das besetzte Land, das die Palästinenser als ihr Staatsgebiet forderten?2 Stand dies in seinem Belieben? Dies uneingeschränkt zu bejahen, würde das ausgeprägte und zugleich manipulierbare Bedürfnis der israelischen Mehrheitsgesellschaft nach Sicherheit nicht in Rechnung stellen. Warum also das Pfand aus der Hand geben, solange die Palästinenser nicht klar und deutlich auf jedwede Gewalt verzichten? Diese wiederum interpretierten die Expansion der Siedlungen als Kolonisierung des Territoriums, das ihr Staatsgebiet werden soll, und zollten den Gewaltstrategien der Gegner eines Verhandlungsfriedens im eigenen Lager Beifall. Anstatt also «Land gegen Frieden» zu tauschen, setzten die Kontrahenten ihre Konfliktstrategien fort: Landnahme gegen Terror. Im Lichte dieser Deutung war der Zusammenbruch des Friedensprozesses nur eine Frage der Zeit.
Lässt er sich nach 12 000 Toten wiederbeleben? Warum nicht, könnte man meinen, wenn man die Opferzahl mit der in anderen langen Gewaltkonflikten weltweit vergleicht. Im Lichte der territorialen Realität hingegen ist Skepsis angebracht. Können die «facts on the ground» angesichts der unaufhaltsam erscheinenden Erstarkung der israelischen Rechten3 noch als reversibel gelten?


Rivalität untergräbt Verhandlungsposition

Infrage steht aber auch die Verhandlungsfähigkeit der Palästinenser. Die letzte Chance, mit einer palästinensischen Führung zu verhandeln, die im Besitz eines demokratischen Mandats war, liessen Israel und die Sponsoren des Friedensprozesses 2006 verstreichen. Mehr noch: Mit dem Boykott der aus freien und fairen Wahlen hervorgegangenen palästinensischen Führung befeuerten sie die Rivalität zwischen den grossen politischen Lagern Fatah und Hamas. Die seit 2007 andauernde politische Spaltung zwischen der von der Palästinensischen Autonomiebehörde regierten Westbank und dem von Hamas kontrollierten Gazastreifen untergräbt die Verhandlungsposition der Palästinenser. Ob die andauernde Spaltung aus unterschiedlichen Konzepten über den Weg zur nationalen Selbstbestimmung resultiert4 oder aus dem Wunsch beider, die Macht in den von ihnen regierten Gebieten zu konsolidieren5, sei dahingestellt. Im Ergebnis gilt: Wer nicht glaubhaft zusichern kann, eingegangene Verpflichtungen umzusetzen, liefert der anderen Seite Gründe oder Vorwände, den Preis für eine Beendigung des Konflikts hochzuschrauben.

Politische Lösungsansätze

Die den Palästinensern zugebilligte Selbstverwaltung vollzieht sich unter Besatzung. Sie hat im Gazastreifen und in der Westbank unterschiedliche Formen angenommen, doch die israelische Kontrolle über beide Gebiete besteht fort. Daran ändert auch der Status Palästinas als UNO-Beobachterstaat, seine Mitgliedschaft in zahlreichen UNO-Unterorganisationen oder die diplomatische Anerkennung des Staates Palästina durch die Mehrheit der Staatengemeinschaft nichts. Angesichts der Fragmentierung der Westbank und der schieren Zahl jüdischer Siedler scheint der «point of no return» überschritten. Israelis wie Palästinenser mögen der Zweistaatenlösung im Prinzip mehrheitlich zustimmen. Aber die meisten haben den Glauben an ihre Realisierbarkeit verloren.

Die Entwicklung vor Ort geht in Richtung Einstaatlichkeit, allerdings ohne demokratische und völkerrechtliche Legitimität. Im «neuen» Nahen Osten nach dem Arabischen Frühling ist der Palästinakonflikt aus dem Zentrum an den Rand des Konfliktgeschehens gerückt. Andere Konflikte mit viel höherem Eskalationspotenzial beanspruchen die diplomatischen Ressourcen der Schwergewichte in der Staatenwelt weit mehr. Doch aus dieser Bilanz folgt nicht zwangsläufig, dass der Palästinakonflikt auf absehbare Zeit unlösbar ist.6 Eine oft genannte Alternative zur Zweistaatlichkeit ist ein binationaler Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer. Dessen Bürger besässen unabhängig von ihrer Nationalität gleiche Rechte. Das Problem damit: Es gibt dafür keine Mehrheiten. Die israelische Bevölkerung, die an Israel als jüdischem Staat festhalten will, fürchtet ihre Majorisierung durch die überwiegend muslimischen Palästinenser. Diese wiederum wollen sich nicht von ihrem langen und opferreichen Kampf um Eigenstaatlichkeit verabschieden.

Föderative Lösungsansätze wollen beidem Rechnung tragen: den nationalen Selbstbildern und der demografischen wie wirtschaftlichen Verschränkung der Lebenswirklichkeiten beider Völker. Die diversen Varianten verbindet die Idee eines Fortfalls der Grenzen als Hindernis für die freie Wahl des Wohnorts. Sie weisen Wege zur Entschärfung von Sprengsätzen auf dem Weg zum Frieden: die Siedlungen, die Flüchtlingsfrage, Jerusalem. Allerdings: Für keine der diskutierten föderalen Alternativen zur Zweistaatlichkeit als Konfliktlösungsansatz gibt es heute eine Aussicht auf Mehrheiten.

Eine auf den ersten Blick radikale Alternative wäre Einstaatlichkeit als Ergebnis der fortgesetzten Kolonisierung der Westbank. Sari Nusseibeh, von 1996 bis 2014 Präsident der Jerusalemer Al-Quds-Universität und früher prominenter Befürworter der Zweistaatenregelung, empfahl in einem «Gedankenexperiment»7 die israelische Annexion der besetzten Gebiete. In einem erweiterten Israel vom Jordan bis zum Mittelmeer wären allen Palästinensern die Menschen- und Bürgerrechte mit Ausnahme des Wahlrechts garantiert. In dem jüdisch dominierten Staat wären sie folglich Staatsbürger zweiter Klasse und würden um ihre politischen Rechte gewaltfrei kämpfen können. Die Gesellschaft wäre binational, aber der Staat jüdisch. Denn durch den vorläufigen Verzicht der Palästinenser auf politische Gleichberechtigung würde Israels jüdischer Charakter nicht angetastet. Mit dem Verlust seines demokratischen Charakters müsste sich das israelische «Staatsvolk» dann selbst auseinandersetzen. Unter ihm würden die Palästinenser zweifellos Verbündete finden.

Margret Johannsen

 

1 Sterzing, Christian, Spannung, einmal positiv, in: taz. die tageszeitung, 7.2.2005.

2 Vgl. Perthes, Volker, Zwangsheirat oder Scheidung. Zu Logiken und Realitäten im israelisch-palästinensischen
  Verhältnis, in: Politische Vierteljahresschrift 47 (2006), 1–11, hier 8.

3 Vgl. die Sitzverteilung in der Knesset 2015, 2013, 2009, 2006 in: Johannsen, Margret, Der Nahost-Konflikt, 4. aktual.
  Auflage, Wiesbaden 2017, 136 f.

4 Vgl. Baumgarten, Helga, Kampf um Palästina – Was wollen Hamas und Fatah? Freiburg i. Br. 2013.

5 Vgl. Asseburg, Muriel, Die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas-Regierung. Erfüllungsgehilfen der
  Besatzung?, in: Lintl, Peter (Hg.), Akteure des israelisch-palästinensischen Konflikts, Berlin 2018, 31–47.

6 Vgl. zum Folgenden Johannsen, Margret, Zwischen Jordan und Mittelmeer. Alternativen zu Besatzung und Krieg
  ohne Ende, in: Schoch, Bruno u. a., Friedensgutachten 2017, Berlin 2017, 179–192.

7 Nusseibeh, Sari, Ein Staat für Palästina?, München 2012, 16.

 


Margret Johannsen

Dr. Margret Johannsen (Jg. 1946) gestaltete von 1987 bis 1997 den friedenspädagogischen Service am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Seit 1997 gehört sie dem Institut als Senior Research Fellow an, seit 2009 ist sie Mitherausgeberin des jährlichen Friedensgutachtens. Sie ist Dozentin im Postgraduiertenstudiengang «Master of Peace and Security Studies − M.P.S.» der Universität Hamburg.