Angefeindet von allen Seiten?

Gewalterfahrungen und Skepsis führen Christen in die Selbstghettoisierung. Christliche Bildungseinrichtungen helfen als interreligiöse Begegnungsräume, zerrbildhafte Vorstellungen von den anderen abzubauen.

Am 18. Juni 2015 wurde von jüdischen Rechtsextremen ein verheerender Brandanschlag auf unser Priorat Tabgha am See Gennesaret verübt. Zwei Menschen mussten mit Rauchvergiftung ins Krankenhaus: ein älterer Mitbruder und eine junge Volontärin. Der Sachschaden betrug über 1,3 Millionen Euro. Leider war und ist dies nicht der erste Brandanschlag auf eine Kirche oder ein Kloster in Israel, nur ein Jahr zuvor traf es unsere Abtei in Jerusalem. Ganz zu schweigen von den fast schon zur Gewohnheit gewordenen Spuck- und Verbalattacken von national-religiösen jüdischen Splittergruppen gegenüber Mönchen und Nonnen in der Jerusalemer Altstadt.

Zur gleichen Zeit flimmern in Jerusalem über die Fernsehbildschirme tagtäglich Enthauptungs- und Zerstörungsvideos des sogenannten «Islamischen Staates», der hier nur «Da'esh» genannt wird – wohlgemerkt unzensiert und sehr explizit, nicht wie in Europa. Alpträume und Durchschlafschwierigkeiten von Kindern wegen dieser Videos sind ein Problem, mit dem wohl schon jeder Seelsorger im Land konfrontiert wurde.

Zwischen den Mehrheitsreligionen

Immer mehr fühlen sich die Christen im Heiligen Land, die nur noch knapp zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, zwischen zwei grossen Mühlsteinen sitzend: auf der einen Seite die jüdischen Israelis, für die sie als Christen genauso «Araber» sind wie die Muslime, und auf der anderen Seite die Muslime, von denen sie sich ebenfalls als «fünfte Kolonne des Westens», als subversiv tätige Minderheit, kritisch beäugt fühlen. Dass die überwältigende Mehrzahl der Juden und Muslime an einem friedlichen Zusammenleben interessiert ist und sich ein Heiliges Land ohne Christen nicht vorstellen kann und will, gerät dabei leicht aus dem Blick. Auf einmal stehen die paar Brandstifter von Tabgha für alle Juden und die kleine Gruppe der IS-Sympathisanten für alle Muslime.

Tendenz zur Selbstghettoisierung

Diese doppelte Skepsis gegenüber den beiden Mehrheitsreligionen im Land führt bei der überwältigenden Mehrheit der Christen zu einer Selbstghettoisierung. Selbstverständlich gibt es auch sehr kleine christliche Gruppierungen, die freiwillig zur israelischen Armee gehen oder offen mit der Hamas sympathisieren, wie es in diesem Land eben nichts gibt, was es nicht geben könnte. Aber die meisten Christen ziehen sich zurück in geschlossene Wohngebiete, Strassen und Dörfer. Sie verschwinden von der Bildfläche und konzentrieren sich immer stärker in «Sakrotopen», wo jeder Nachbar Christ ist, die Kirche und das Pfarrzentrum in Fussnähe liegen, und wo man möglichst weder Juden noch Muslimen begegnen muss. Kritische Distanz zu Juden und Muslimen, das ist es, was viele christliche Eltern ihren Kindern in der Erziehung vermitteln, wie ich es immer wieder gesagt bekomme, da man eben nicht «hinter die Stirn» der anderen schauen könne.

Orte der Begegnung

Zum Wesen des Christentums gehört aber ganz wesentlich, missionarisch, Sauerteig zu sein! Das heisst nicht, dass die Christen jetzt anfangen sollen, die Juden und Muslime bekehren zu wollen, aber sie sollten sich nicht verstecken, zumal sie in der Regel zur Bildungselite in den palästinensischen Gebieten und in Israel gehören! Das ist auch einer der Gründe, warum ich immer nur im Mönchshabit vor die Türe gehe, um den Christen Mut zu machen, sich nicht zurückzuziehen, sondern öffentlich zu ihrem Christsein zu stehen.

Enorm wichtig und hilfreich sind hierbei die vielen christlichen Bildungseinrichtungen, welche allen Menschen gleich welcher Religion zugänglich sind; in ihnen wird nicht nur eine hervorragende Erziehungs- und Bildungsarbeit geleistet, sondern sie sind im besten Sinne Sauerteig für die israelische und palästinensische Gesellschaft und ermöglichen, dass der Christ nicht das unbekannte Wesen ist, über das man zerrbildhafte Vorstellungen hat, sondern der Studienkollege an der Universität oder die Freundin aus der Schule, mit der man dieselbe Schulbank teilt. Konkrete zwischenmenschliche Begegnungen sind wohl mit Abstand das effektivste Gegengift gegen vorurteilsbeladenes Schubladendenken. Dies erklärt wohl auch, dass fast alle christlichen Kirchen im Heiligen Land beachtliche personelle und finanzielle Ressourcen für ihre Bildungseinrichtungen aufwenden, da sie einerseits ausgezeichnete Erziehung und Bildung mit einem weiten Horizont bieten als auch kostbare interreligiöse und interkulturelle Begegnungsräume sind.

Zunahme hebräischsprachiger Christen

Hilfreich für die immer weniger werdenden arabischsprachigen Christen wäre auch das stärkere Wahrnehmen ihrer stetig mehr werdenden hebräischsprachigen Glaubensgeschwister, das leider noch viel zu wenig geschieht. Mit diesen hebräischsprachigen Christen sind übrigens keine zum Christentum konvertierten Juden gemeint. Diese gibt es zwar auch, sie stellen mit unter 1000 Christen aber eine eher marginale Grösse dar. Sondern zu den hebräischsprachigen Christen zählen einerseits die täglich von Abschiebung bedrohten christlichen Flüchtlinge aus Äthiopien, Eritrea, Somalia und dem Südsudan und andererseits die christlichen Gastarbeiterinnen von den Philippinen, aus Indien und Sri Lanka. Letztere arbeiten nicht selten in der Halblegalität bis hin zur Illegalität in der Kinderbetreuung und Altenpflege. Deren Kinder wachsen mit der hebräischen Sprache und als Christen in einem mehrheitlich jüdischen Umfeld auf, während die alteingesessenen palästinensischen Christen in der Regel mit einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft konfrontiert sind. Mittlerweile kommen auf drei arabischsprachige Christen in Israel und Palästina (es sind etwa 150 000) zwei hebräischsprachige Christen (es sind etwa 100 000); die Tendenz weist in Richtung eines baldigen Gleichstands!

Transnationalität als Chance

Der transnationale Charakter der kirchlichen Strukturen in dieser Region birgt einen Schatz, der meines Erachtens noch gar nicht richtig gehoben wurde. Nimmt man etwa die römisch-katholische Erzdiözese von Jerusalem, welche den klangvollen Namen «Lateinisches Patriarchat» trägt, stellt man fest, dass sie folgende Gebiete umfasst: Israel, die palästinensischen Autonomiegebiete, das Königreich Jordanien und Zypern. Konkret heisst dies, dass der Bischof von Jerusalem zu seinen Gläubigen griechischsprachige EU-Bürger auf Zypern, christliche Palästinenser im Gaza-Streifen, in Israel und in der Westbank, Angehörige christlicher Beduinenstämme und Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien in Jordanien, Arbeitsmigrantinnen aus den Philippinen in Israel und auch deutsche Benediktinermönche und Tausende andere Ordensleute aus aller Welt, die an den Heiligen Stätten ihren Dienst tun, zu seiner Diözese zählt. In einem Teil dieser Erde, wo die Mauern und die Skepsis wachsen, vereinen die Kirchen Gläubige verschiedener Ethnien, Sprachen, Schichten und Lebenskontexte zu einer Gemeinschaft. Niemand ist so konsequent transnational aufgestellt wie die Kirchen. Letztlich geht es darum, dass die Kirchen noch glaubwürdiger leben, was sie verkündigen, nämlich dass man durch die Taufe Christ wird und nicht durch Abstammung und dass es diese Taufe ist, die sie alle zu gleichwertigen Gliedern ein und derselben Kirche macht.

Das Entdecken und Wahrnehmen der Ängste, Probleme und Sehnsüchte der vielen so völlig unterschiedlich herausgeforderten christlichen Bevölkerungsgruppen des Heiligen Landes, welche zur selben Kirche gehören und die gleiche Taufe empfangen haben, kann in Zukunft sicher vieles positiv in Bewegung setzen und den Christen wieder neue Kraft und Mut schenken, an ihren jeweiligen Orten auf je unterschiedliche Weise Sauerteig zu sein – sei es in Tel Aviv, Gaza, Bethlehem, Eilat oder Jerusalem!

Nikodemus C. Schnabel

 

Buchempfehlung

«Zuhause im Niemandsland. Mein Leben im Kloster zwischen Israel und Palästina». Von P. Nikodemus C. Schnabel. Stuttgart, 4. Auflage 2016. ISBN: 978-3-7766-2744-2,
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P. Nikodemus lebt seit mehr als zehn Jahren mitten im Konflikt zwischen Israel und Palästina. Er zeigt eine neue Perspektive auf die Heilige Stadt, die nicht nur von Konflikten und Gewalt geprägt ist, sondern auch von
einem Miteinander zwischen Juden, Moslems und Christen.


Nikodemus C. Schnabel

Dr. P. Nikodemus Claudius Schnabel (Jg. 1978) trat 2003 in die deutschsprachige Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg ein und promovierte 2013 an der Universität Wien im Fach Liturgiewissenschaft. Zurzeit ist er unter anderem Seelsorger für alle deutschsprachigen Katholiken im Heiligen Land, Direktor des Jerusalemer Instituts der Görres-Gesellschaft und Verantwortlicher für das an der Dormitio-Abtei angesiedelte ökumenische «Theologische Studienjahr Jerusalem».