Grenzerfahrungen

Wir alle kämpfen hin und wieder mit Grenzerfahrungen. Markus Thürig, Generalvikar des Bistums Basel, teilt seine Art, damit umzugehen.

Nichts kann uns nachhaltiger treffen als Grenzerfahrungen. Ich habe das in den vergangenen Wochen mehr erlebt als gewohnt. Nachhaltig wirken die damit verbundenen Gefühle. Sie prägen sich in unserer Erinnerung ein. Stossen wir an unsere eigenen Grenzen, sind es Enttäuschung, Trauer, Schmerz, Ohnmacht, Ärger, Wut. Stossen wir uns an den Grenzen anderer, sind es Ungeduld, Verärgerung, Distanzierung, Verunsicherung.
Grenzerfahrungen treffen uns unerwartet; denn die Grenze zeigt sich erst, wenn wir an ihr an- stossen. Grenzerfahrungen decken wir mit Vermeidungsstrategien: nicht wahrhaben wollen, verniedlichen, sich erklären (rationalisieren), überspielen. Darin liegt ihr gefährliches Potenzial für unsere Gesundheit und für das Zusammenleben.

Uns Seelsorgerinnen und Seelsorger treffen Grenzerfahrungen häufiger als früher. Ich sehe darin einen Grund für «ausgebrannte» Kolleginnen und Kollegen. Sie arbeiten vorwiegend in der Pfarreiseelsorge. Hier sind die Arbeitszeitbelastungen hoch. Unterschiedlichste Erwartungen sollten erfüllt werden. Zu oft gerät man in Gesprächen ins Verteidigen oder Rechtfertigen. Manche Überzeugungen «der röm.-kath. Kirche» sind schwer zu vermitteln. Wer für sie eintritt, reibt sich nach aussen mit Personen anderer Überzeugung. Wer sie gemeinsam mit dem Gesprächspartner verneint, reibt sich nach innen am eigenen Widerspruch, für eine Organisation zu arbeiten, deren Überzeugungen man nicht mehr teilt. Für alle, die eine Leitungsfunktion ausüben, potenzieren sich diese Reibungen.
Seit ich als Generalvikar einen tieferen Einblick habe, beschäftigt mich die Frage: Wie können wir diesen Druck mindern? Dienen dazu Strukturanpassungen? Helfen Weiterbildungen oder Intervisionsgruppen? Brauchen wir eine Kultur der Abgrenzung, um Grenzerfahrungen zu mindern?

Scheiden gehört zur Grundstruktur christlichen Lebens. Mir wird das beim Taufbekenntnis bewusst. Widersagen/glauben zieht zwei Grenzen, die den Pilgerweg markieren. Die Unterscheidung der Geister wird zum wichtigen Handwerk. «Ignatianische Impulse» heisst eine Reihe kleiner Schriften im Echter Verlag. Zwei will ich erwähnen: Band 45: Albert Keller, Vom guten Handeln. In Freiheit die Geister scheiden; Band 82: Bernhard Waldmüller, Führen – sich und andere. Aufmerksam, frei, entschieden.
Noch ein Tipp: Helmut Schlegel, Spiritual Coaching. Führen und Begleiten auf der Basis geistlicher Grundwerte, Echter Verlag 2007. Er entfaltet zwölf geistliche Grundwerte für Führungskräfte und andere: Achtsamkeit, Beharrlichkeit, Echtheit, Gerechtigkeit, Gottvertrauen, Klugheit, Lebensfreude, Liebe, Masshalten, Mut, Selbstvertrauen und Zuversicht.

Von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, lese ich in diesen Tagen bei der Vorbereitung der Messfeiern zum 18. Sonntag im Jahreskreis. Paulus fragt: «Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?» (Röm 8,37) Er zählt seine Grenzerfahrungen auf: Bedrängnis, Not, Verfolgung, Hunger, Kälte, Gefahr, Schwert. Und bekennt: «Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn» (Röm 8,37–39). Mich berührt dieses Bekenntnis immer wieder. Erinnere ich mich in eigenen Grenzerfahrungen daran, gibt es mir Mut und Kraft.

Markus Thürig


Markus Thürig

Dr. Markus U. Thürig (Jg. 1958) ist seit 2011 Generalvikar des Bistums Basel und Präsident der Herausgeberkommission der Schweizerischen Kirchenzeitung.