Wie weiter?

Weihbischof Alain de Raemy macht sich Gedanken über das Christsein in Krisenzeiten und findet Antworten im Evangelium, wo es heisst: «Nichts ist verloren, alles kann zum Guten gewandelt werden.»

Diese Frage kann man sich immer wieder stellen. Heute aber ganz besonders. Das Planen fällt schwer. Nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Wir erleben Tag für Tag einen tiefgreifenden kulturellen Umbruch. Religionen sind ganz besonders betroffen. Aber auch die Wissenschaften werden herausgefordert. Die postmoderne Überzeugung, es könne uns ja und in jeder Hinsicht immer besser ergehen, wird heute zumindest infrage gestellt.

Wie stehen wir als Christen dazu?

Eigentlich «passt» der instabile Stand der Dinge sozusagen ganz gut zu unserem Christsein! Immer wieder wirft Christus in seinen Gleichnissen ungelöste und provokative Fragen auf: Wenn er vom Vater erzählt, der den abtrünnigen Sohn feierlich empfängt, oder vom Hirten, der 99 Schafe für das einzig Verlorene riskiert, und fragt: «Was sagt ihr dazu?» Ja, was sagen wir dazu? Wie weiter?

Der Herr spricht zu uns im Weltgeschehen in den Zeichen der Zeit. Und er weist uns auf sein Evangelium hin. Dort heisst es ständig, so verrückt es auch tönt: «Nichts ist verloren. Alles kann zum Guten gewandelt werden. Auch wenn es hoffnungslos scheint.» Ja, da sind wir Christen ganz besonders gefragt. Es gehört sich, sich voll und ganz in die ungelösten Fragen zu stürzen. Es lohnt sich also auch, Kindern das Leben als grenzensprengende Herausforderung weiterzugeben. Denn wir glauben, dass Gott der Schöpfer ist. Nicht ein für alle Mal – am Anfang der Zeiten. Er ist es immerwährend. Würde er nur während einer Sekunde nicht mehr an uns denken, nicht mehr wollen, dass es alles gibt, dann würde alles auf einmal verschwinden. Alles. Es gäbe einfach nur IHN. Warum sollten wir kein Vertrauen entwickeln, wenn ER ja alles am Leben tatsächlich hält! Ob ohne oder auch eben mit Coronavirus. Ob ohne oder auch mit Klimawandel. Und wir wissen, dank der frohen Botschaft Jesu, wie unendlich gut ER es mit uns allen meint. Denn Gott ist Liebe, Gott hat die Welt so sehr geliebt … Denn wir glauben auch, dass Jesus am Kreuz nicht nur all unsere Bosheit, sondern auch all unsere Leiden erlitten hat. Die Leiden aller Menschen aller Zeiten, die Leiden seiner Schöpfung. Die Leiden der Pandemie wegen. Und was wird daraus? Auferstehung! Ja, Sieg des Guten! Das Aufkommen einer grösseren, definitiven Macht. Die Entfesselung eines Teufelskreises. Jesus ist schon so weit. Wir noch nicht. Aber wir dürfen vertrauen: Kein einziger Einsatz, keine einzige Mühe für eine bessere Welt auf Erden wird ohne Früchte im Himmel wie auf Erden sein.

Für das Heil geschaffen

Wir glauben also, dass die vielen heute aktuellen Fragen uns Christen nicht entmutigen, sondern bestätigen. Ja, diese unheile Welt ist für das Heil geschaffen. Und unsere Aufgabe ist es, zu erkennen, dass, wie «verrückt» auch Vieles in Kirche und Gesellschaft laufen kann, wir gefordert sind, noch «verrückter» darauf zu reagieren: im Hoffnungslosen eine unbesiegbare Hoffnung zu entdecken. Wer Gott hat, dem fehlt nichts. Wer Gott hat, der lässt keinen Mitmenschen im Stich. Mit den Worten «Laudato sì» Gott zu preisen, heisst ja, geschwisterlich alle einzubinden und sie als «Fratelli tutti» zu erachten.

Wir stehen alle an einem Wendepunkt, wo wir uns wirklich fragen müssen: «Wie soll es weitergehen?» Wir Christen haben aber Grund genug zu denken: «Das Weitergehen kann nur ein Zusammenschreiten auf Gott hin sein. Mit ihm ist alles möglich.» Denn erstaunlich ist und bleibt, dass Gott nicht die Erfolgsreichen, sondern jene, die noch hungern und dürsten, hier und jetzt seligpreist (Mt 5,1–12).

+ Weihbischof Alain de Raemy


Alain de Raemy

Alain de Raemy (Jg. 1959) studierte Philosophie und Theologie in Freiburg i. Ü. Am 25. Oktober 1986 wurde er in Freiburg zum Priester geweiht. Nachdem er von 1986 bis 1988 Vikar in der Pfarrei Saint-Pierre in Yverdon und von 1988 bis 1993 Pfarrer in solidum in Lausanne gewesen war, setzte er seine theologischen Studien an der Gregoriana und dem Angelicum fort. Von 1995 bis 2006 war er wieder in der Pfarreiseelsorge im Bistum Lausanne-Genf-Freiburg tätig. Am 1. September 2006 wurde er Kaplan der Päpstlichen Schweizergarde im Vatikan. 2013 ernannte ihn Papst Franziskus zum Weihbischof der Diözese Lausanne-Genf-Freiburg und am 10. Oktober 2022 zum Apostolischen Administrator der Diö-zese Lugano.