Gerechtigkeit als regulierendes Prinzip

«Die Ermordung Cäsars» von Vincenzo Camuccini. (Bild: Wikipedia)

 

Tyrannen töten – eine Bürgerpflicht? Diese Frage zählt zu den Klassikern philosophischer und theologischer Ethik, hat aber ihre Aktualität keineswegs eingebüsst. Es lässt Bürgerinnen und Bürger rechtlich verfasster Staats- und Regierungssysteme nicht kalt, wenn darin Macht widerrechtlich ergriffen und behauptet wird oder wenn Herrschende die ihnen verliehene Macht missbrauchen. Trotz der mit diesem Missbrauch verbundenen Willkür und Lebensopfer wurde die Beseitigung oder Tötung solcher Tyranninnen und Tyrannen konträr beurteilt. Das liegt an der unterschiedlichen Deutung und Gewichtung der ins Feld geführten Erfahrungen und Güter.

Cicero hat die verbrecherische Diktatur Caesars vor Augen, die das Ende der römischen Republik einläutete. Deren auf Wahlen, Gesetze und Machtbegrenzung gegründete Form wollte Freiheit, Gerechtigkeit und damit die Wohlfahrt aller Bürger sichern. Diesen der Natur des Menschen gemässen Staat zu verteidigen und einer Alleinherrschaft zu widerstehen, ist laut Cicero Pflicht eines jeden. Dabei wirbt er für die Vertreibung oder Tötung von Tyrannen, obwohl er sonst den Schutz menschlichen Lebens vertritt. Der Tyrann jedoch ist davon ausgenommen, da er sich aus der Rechtsgemeinschaft entfernt und zum Unmenschen wird. Seine Gewalt zu beenden, bedeutet Ruhm und Ehre.

Zurückhaltend äussert sich Thomas von Aquin: Als Zeuge mittelalterlicher Aristokratien kennt er politischen Machtmissbrauch, hat aber auch die Kirchenväter und die ihnen folgende Tradition im Blick. Fast einhellig lehnt man hier aktiven Widerstand und Tyrannentötung ab, wobei biblische Motive (Tötungsverbot, Gewaltverzicht, gottgewollte Obrigkeit) Pate stehen. Dagegen betont Thomas, dass Regenten, die willkürlich töten, die Gemeinwohl und Gerechtigkeit untergraben, ihre göttliche Legitimation verlieren. Man soll ihre Absetzung rechtlich betreiben, dabei aber Willkür und grösseren Schaden vermeiden. Ist dieser Weg totalitär verbaut, schliesst Thomas – Cicero zitierend – Tyrannentötung als letztes Mittel nicht aus.

Fixiert auf Obrigkeit und Ordnung lehnen neuzeitliche Philosophie und Theologie aktiven Widerstand gegen ungerecht Regierende lange ab. Unter dem Eindruck des Recht und Leben zerstörenden Nazi-Regimes ändert sich das. Dietrich Bonhoeffer – beteiligt an Plänen zur Beseitigung Hitlers – sieht darin seine konkrete christliche Verantwortung: Im Extremfall bedeute das Tötungsverbot, zu töten, um Töten zu verhindern. Nach dem Krieg finden selbst die Kirchen zu diesem Ansatz: Wenn Herrschende Grund- und Menschenrechte auf Dauer gravierend verletzen und politisch-rechtlich nicht gestoppt werden können, sind aktiver Widerstand und notfalls umgrenzte Gewalt gerechtfertigt. Despoten zu töten, ist nicht die zentrale Absicht, kann aber für die Wiederherstellung von Recht und Freiheit alternativlos sein.

Despoten oder Despotinnen, die Recht beugen, Justiz und Medien ausschalten und Leben vernichten, gibt es auch heute. Es werden immer mehr! Machterhalt und handfeste eigene Vorteile sind ihre Motive. Widerstand von innen ist schwer: Oft können sie sich auf ihre Wahl, ein durch sie dominiertes Parlament und die populistisch manipulierte Öffentlichkeit berufen. Für wirksames Eingreifen von aussen fehlen völkerrechtliche Instrumente. So sind gezielte, gewissensgetragene Gegengewalt und notfalls die Tötung des Verbrechers im Amt letzte verbleibende Mittel. Um sie nicht zu benötigen, sind alle in der Pflicht: «Wehret den Anfängen!» Oder mit Cicero: Niemand ist nur Privatperson, wenn bürgerliche Freiheit und Rechte auf dem Spiel stehen!

Hanspeter Schmitt*

 

* Prof. Dr. Hanspeter Schmitt (Jg. 1959) ist habilitierter Moraltheologe. Er lehrt und forscht als Professor für Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur.