Der Wunsch nach einer gerechteren Welt

Unsere Gesellschaft ist weit entfernt davon, perfekt zu sein. Es stellt sich daher die Frage, wie mithilfe von Prinzipien der Gerechtigkeit eine positive Veränderung möglich ist.

In der Freiburger Schule der Nationalökonomie wird bezüglich des Wettbewerbs am Markt zwischen den konstituierenden und den regulierenden Prinzipien unterschieden. Erstere sind die Prinzipien, nach denen der Markt eingerichtet werden soll, also zum Beispiel das Prinzip des Privateigentums. Letztere sind die Prinzipien, die das Marktgeschehen am Laufen halten sollen, etwa die Verhinderung von Monopolen, die sich als Konsequenz des Marktgeschehens bilden, oder die Regulierung von Umweltschäden nach dem Verursacherprinzip.

Den Staat am Laufen halten

In der Gerechtigkeitstheorie unserer Zeit dient der Begriff Gerechtigkeit primär als Leitfaden, um die Prinzipien anzugeben, nach denen der Staat eingerichtet werden soll. In seinem epochemachenden Werk aus dem Jahr 1971 «Eine Theorie der Gerechtigkeit» definiert der US-amerikanische Philosoph John Rawls Gerechtigkeit als erste Tugend staatlicher Institutionen. Diese müssten – das sei wichtiger als alles andere – gerecht eingerichtet sein. Das bedeutet Rawls zufolge, dass ein jedes Mitglied eines Staates, ganz egal welcher ökonomischen und sozialen Schicht es angehört, das Leben in diesem Staat als gerecht würde verstehen können. Der gerechte Staat ist fair zu jeder und jedem seiner Staatsangehörigen.

Kombiniert man nun die Unterscheidung der Freiburger Nationalökonomie zwischen regulierenden und konstituierenden Prinzipien mit Rawls’ Gleichsetzung von Gerechtigkeit als der Frage nach dem gerechten Staat, kann man sagen, dass sich Gerechtigkeit als konstituierendes Prinzip auf die Frage bezieht, wie der Staat gerecht einzurichten ist, während Gerechtigkeit als regulierendes Prinzip angibt, wie der Staat – einmal eingerichtet – am Laufen zu halten ist.

Weit entfernt von der perfekten Welt

Fokussieren wir auf diesen zweiten Strang der Unterscheidung, der Frage nach den regulierenden Prinzipien, ergo den Prinzipien von Gerechtigkeit, die wir brauchen, um den Staat am Laufen zu halten. Dabei sei zunächst angemerkt, dass sich dieser Fokus auf die regulierenden im Unterschied zu den konstituierenden Prinzipien gut in einen Trend innerhalb der Gerechtigkeit als philosophischer Disziplin einfügt. Dort gibt es momentan starke Tendenzen, die Frage nach jenen Prinzipien der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, die den Staat am Laufen halten. Dies im Unterschied von und in expliziter Abgrenzung zum bereits erwähnten Werk von Rawls. Rawls geht es in erster Linie um die Frage nach der korrekten Einrichtung des Staates, wenn man ganz am Anfang, bei der Gründung des Staates beginnen könnte. Das erklärte Ziel von Rawls besteht darin, zu skizzieren, wie der perfekt gerechte Staat aussehen würde. Diese Skizze wiederum dient als Vorlage dafür, konkrete Probleme mit gerechtigkeitstheoretischer Dimension zu lösen, und nach dem Prinzip, welche konkrete Handlung uns näher an das proklamierte Ideal des perfekt gerechten Staates heranbringen würde.

Die Kritik an diesem konstituierenden Ansatz, welche sich in den letzten Jahren herausgebildet hat, besteht darin, dass diese Vorlage der perfekt gerechten Welt einerseits nur geringe Bedeutung für konkrete Probleme erlangen kann: Die Welt, wie sie heute ist, ist zum einen viel zu weit weg von erdenkbaren Idealen und zum anderen sind die Probleme in ihr zu komplex und vieldimensional, als dass sie mit der Schablone einer perfekt gerechten Welt gezeichnet werden könnten. Als Beispiel: Was hilft es zu wissen, dass die Mona Lisa das perfekte Porträt ist, wenn es konkret darum geht, ob man sich für ein Porträt von Kehinde Wiley oder eines von Alex Katz1 entscheiden soll?

Andererseits, so kritisieren andere das auf konstituierenden Prinzipien abstellende Vorgehen von Rawls, legt der Fokus auf die perfekt gerechte Welt fälschlicherweise nahe, dass unsere Welt schon relativ nahe an diesem Ideal sei, und lässt uns dabei übersehen, wie weit weg wir davon – trotz einiger Fortschritte – doch noch immer sind. Diese Kritik wird vor allem in den USA vor dem Hintergrund der Gleichberechtigung afro- amerikanischer Bürgerinnen und Bürger geübt. So etwa von Charles W. Mills2, der darauf hinweist, dass sich im Werk von Rawls keine einzige ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Problematik findet.

Bereits gemachte Anfänge nutzen

So wird heute versucht, die philosophische Debatte zu Gerechtigkeit weg von einer konstituierenden Gerechtigkeit und hin zu Fragen nach regulierender Gerechtigkeit zu schieben. Gerechtigkeit soll nicht von einem Ideal des Neubeginns, sondern von der Situation aus gedacht werden, in der wir uns befinden; einer Situation, die komplex und unübersichtlich ist, dabei sicherlich nicht komplett ungerecht, aber eben gleichzeitig weit weg von möglichen Idealen einer gerechten Welt. Wie kann diese Welt – semi-befriedigend eingerichtet – also am Laufen gehalten und im Optimalfall sogar konstant gerechter gemacht werden? Dies ist m. E. die Frage der Gerechtigkeit als regulierendes Prinzip.
Eine mögliche Antwort besteht darin, in der Welt, so wie sie ist, nach Prinzipien der Gerechtigkeit zu suchen, die zwar institutionell verankert, jedoch noch nicht oder zumindest nicht vollständig umgesetzt sind. Hier schlummern Potenziale, die Welt gerechter zu machen – lediglich durch einen Prozess genauerer Umsetzung. Der wohl klassische Fall dafür ist die Bürgerrechtsbewegung in den USA, und zwar der Strang, dem das Wirken Martin Luther Kings (MLK) zuzuordnen ist. MLK ging es nicht darum, neue Prinzipien der Gerechtigkeit zu entwerfen. Vielmehr war ihm daran gelegen, das im Grundgesetz etablierte Ideal von Leben, Freiheit und Glückseligkeit auch für die Bürgerinnen und Bürger afrikanischer Herkunft zu realisieren. In seiner berühmten Rede «I have a dream» sagte er nichts anderes, als dass die mit Diskriminierung und Unterdrückung einhergehenden Probleme der Schwarzen in den USA Teil einer Situation seien, die gar nicht existieren dürfte, wenn die bestehenden Ideale und die davon abgeleiteten Regeln dieses Landes konsequent umgesetzt wären. Genau diese konsequente Umsetzung bereits bestehender Regeln klagt MLK ein, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr, keine entfernten Ideale, keine perfekt gerechte Welt. Ergebnis dieser konsequenten Umsetzung wäre die Aufhebung der Rassentrennung in Schulen, Kulturlokalitäten, im öffentlichen Verkehr usw., ein grosser Schritt in Sachen Erhöhung von Gerechtigkeit.3

Spatz oder Taube?

Dieser Rekurs auf etablierte, im Fall MLKs sogar rechtlich institutionalisierte Prinzipien hat den Vorteil, dass konkrete Forderungen, die Welt gerechter zu machen, an etwas anknüpfen können, das zumindest als Forderung bereits existiert. Es muss also weder etwas genuin Neues ersonnen noch gegen eine existierende Ordnung argumentiert werden. Diese daher im Verhältnis leichter umzusetzenden Potenziale der Gerechtigkeit sollten zuerst einmal angezapft werden, so eine mögliche Empfehlung eines Denkens von Gerechtigkeit, das auf regulierende Prinzipien abstellt. Geschähe eine solch konsequente Umsetzung, wäre man zwar noch immer weit von der perfekt gerechten Welt entfernt, wie Rawls und andere sie sich vorgestellt haben, jedoch würde man gleichzeitig in einer deutlich gerechteren Welt leben als der Welt, wie sie heute ist. Setzte man den Hebel der Gerechtigkeit so an, würde man nicht, wie bisher allzu oft der Fall, den Spatzen in der Hand für die unerreichbare Taube auf dem Dach aufgeben.

Michael G. Festl.

 

1 Beides US-amerikanische Maler.

2 Jamaikanischer Philosoph, der am renommierten CUNY Center in New York lehrt.

3 Ausführlicher in: Festl, Michael G., Gerechtigkeit als historischer Experimentalismus. Gerechtigkeitstheorie nach der pragmatischen Wende der Erkenntnistheorie, Konstanz 2015.

 


Michael G. Festl

PD Dr. Michael G. Festl (1980) studierte Philosophie in München, Chicago und St. Gallen. Zugleich absolvierte er den Masterstudiengang Banken und Finanzen an der Universität St. Gallen und den Masterstudiengang Europäische Moderne: Geschichte und Literatur an der Fernuniversität Hagen. Seit 2014 ist er ständiger Dozent für Philosophie an der Universität St. Gallen. Er ist Direktor des John-Dewey-Center Switzerland, Vizepräsident der Philosophischen Gesellschaft Ostschweiz und war von 2013 bis 2015 Präsident der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft. Er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in der Nähe des Bodensees.