Weltgericht als letzte Gerechtigkeit?

Opfer, die auf Erden keine Gerechtigkeit erfahren, hoffen auf das Endgericht. Doch der barmherzige Gott geht dem verlorenen Sohn entgegen (Lk 15,11–32). Gerechtigkeit – nur ein Wunschtraum?

Darstellung des Jüngsten Gerichts am Tympanon des Fürstenportals des Bamberger Doms. (Bild: Wikimedia)

 

Die Bilder prägen sich ein: Von einer lichtvollen Aura umstrahlt und auf einem Regenbogen thronend erscheint Christus als himmlischer Richter. Unter ihm eine Landschaft mit Gräbern; ihnen entsteigen die soeben vom Tod Erweckten, um sich in zwei Gruppen zu formieren. Von Engeln geleitet, schreitet die eine Gruppe in froher Erwartung dem himmlischen Jerusalem entgegen, die andere Gruppe wird von furchteinflössenden Teufeln in den Höllenschlund gezerrt, wo unauslöschliches Feuer und ewige Qualen auf sie warten.

Komplexe Lebenssituationen

In unzähligen Versionen begegnet einem dieses apokalyptische Szenario: über romanischen Kirchenportalen findet es sich ebenso wie auf spätmittelalterlichen Altartafeln. Im bündnerischen Müstair ist die wohl älteste erhaltene Darstellung des Weltgerichts überhaupt zu sehen: Die Fresken in der Klosterkirche von St. Johann mit dem richtenden Christus im Zentrum entstanden um das Jahr 800. Viele Szenen spielen auf biblische Ankündigungen eines Weltgerichts an, wie sie uns im Matthäusevangelium (Mt 25,31–46) oder in der Offenbarung des Johannes (Offb 20,11–15) begegnen. Auch das alttestamentliche Buch Daniel weiss von einem Gericht; dabei wird am Ende der Zeiten über Völker und Reiche Recht gesprochen (Dan 7,9–14).

Viele Jahrhunderte lang schlug die bestechende Logik der Darstellung ihre Betrachter in den Bann. Sie passt aber auch ins digitale Zeitalter: Hier die Gerechten, dort die Verdammten – ein Drittes gibt es nicht. Gerettet ist, wer im «Buch des Lebens» (Offb 3,5) steht. Die Umkehrung des Satzes wird zur Mahnung: Verdammt ist, wer nicht zu Lebzeiten danach strebt, dem Willen Gottes zu folgen, den Geboten der Kirche zu gehorchen und das Gute zu tun.

Wenn es doch nur so einfach wäre! Schon der Apostel Paulus wusste: «Nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das treibe ich voran» (Röm 7,19). Jeder, der in menschlichen Beziehungen lebt – in der Familie, mit Kindern, im Freundeskreis –, kennt diese Ohnmacht. Warum nur tun wir nicht das, was wir schon längst als das Richtige und Notwendige erkannt haben? Warum fällt uns Verzeihen so schwer? Warum die ständigen Kompromisse im Alltag? Beim Einkaufen nehmen wir ungerechte Löhne in Kauf, ständig verbrauchen wir nicht erneuerbare natürliche Ressourcen. Ein Ausstieg aus diesen Mechanismen scheint – wenn überhaupt – nur um den Preis von Armut und sozialer Ungerechtigkeit möglich. Das lehrte nicht zuletzt die Corona-Pandemie.

Unsere Welt, unser Leben, beides ist hochkomplex – in der Familie, am Arbeitsplatz, in privaten und geschäftlichen Beziehungen. Und da soll am Ende der Welt eine Scheidung in Gerechte und Verdammte dem Handeln der Menschen wie auch der Gerechtigkeit Gottes angemessen sein?

Digitale Logik des Endgerichts

Gläubige Menschen haben diese Problematik seit jeher verspürt. Im 6. Jahrhundert entstand in der lateinischen Kirche die Vorstellung von einem «Reinigungsort» (Purgatorium). Ihr zufolge durchlaufen jene Menschen, die zwar in Gottes Gnade, aber doch nicht frei von Sünden gestorben sind, nach ihrem Tod einen Prozess schmerzhafter Läuterung. Ausgenommen davon sind nur die Heiligen; sie gelangen unverzüglich zum Thron Gottes und können dort für die im «Fegefeuer» Leidenden fürbittend einstehen.

Doch auch wenn die Vorstellung von einem Fegefeuer der Komplexität des Lebens gerecht werden will: Letzten Endes überwindet sie die digitale Logik des Endgerichts nicht. Ist es wirklich gerecht, einen sündigen Menschen – und mag er noch so böse sein – mit ewiger Verdammnis zu bestrafen? Immer wieder regte sich der Verdacht – oder auch die Hoffnung –, dass am Ende der Zeiten ausnahmslos alle Menschen zu Gott gelangen.

Eine weitere Schwierigkeit mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht gelangte erst in der Neuzeit ins Bewusstsein. Traditionell ist es allein Christus, der bei seiner Wiederkunft über die Menschen richtet. Zwar werden ihm zur Seite Throne aufgestellt, auf denen «Älteste» oder auch die Apostel Platz nehmen (vgl. Offb 4,4; 20,4). Aber diese Beisitzer haben kein Stimm- oder gar Einspruchsrecht. Die Gerichtshoheit liegt allein bei Christus. Das hat Konsequenzen für die Vertretung der Anklage. Denn Christus vertritt ja nicht nur den Willen seines Vaters. Als der Gekreuzigte vertritt er im Gericht auch die Opfer. Hat doch der sündige Mensch nicht nur Gottes Geboten zuwidergehandelt; er ist auch – und vielleicht sogar zuerst – gegenüber seinen Mitmenschen schuldig geworden. Schuld hat nicht nur eine vertikale, sondern auch eine horizontale Dimension.

Wenn Opfer die Vergebung verweigern

Dem Judentum war dies immer bewusst. Im Talmud heisst es, der Grosse Versöhnungstag (Yom Kippur) sühne nur das, worin die Menschen vor Gott gefehlt haben. Was sie aber einander an Bösem getan haben, das sollen die Menschen auch einander verzeihen. Gott kommt erst dann ins Spiel, wenn Verzeihung erbeten, aber nicht gewährt wurde – nämlich so, dass Gott den Schuldigen dann als gerechtfertigt ansieht. In dieser Perspektive erlangt die horizontale Dimension von Vergebung und Versöhnung ein bislang unbekanntes Gewicht. Die Bitte um Verzeihung anzunehmen, kann Versöhnung ermöglichen; sie zurückzuweisen, lässt Versöhnung scheitern – womöglich auf immer. Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas sieht darin eine «Ungeheuerlichkeit»: Der Andere, der Nächste, kann mich auf immer unversöhnt lassen. Denn, so Levinas: Auch der kommende Messias kann daran nichts ändern. Auch er kann Verzeihen nicht erzwingen.

Dem Christentum ist die horizontale Dimension der Versöhnung nicht fremd: Kein Gottesdienst soll gefeiert werden ohne vorherige Aussöhnung mit dem Bruder oder der Schwester (vgl. Mt 5,23 f). Beim Jüngsten Gericht hingegen scheinen die Opfer von Gewalt, Bosheit und Unrecht keine Rolle mehr zu spielen. Der richtende Christus tritt als ihr Anwalt auf; die Opfer selbst haben im Gericht keine Stimme.

Was aber, wenn die Opfer Verzeihung und Versöhnung verweigern? Wenn sie aus der Tiefe des erlittenen Schmerzens unfähig sind, ihren Peinigerinnen und Peinigern zu verzeihen? Dürfen sie dann dazu genötigt werden, dennoch Verzeihung zu gewähren – so wie es in Südafrika vor den Tribunalen der Wahrheits- und Versöhnungskommission bisweilen geschah? Aber: Den Opfern mangelnde Bereitschaft zur Vergebung vorzuwerfen, käme einer Verdoppelung des von ihnen erlittenen Unrechts gleich.

Kann es da nicht trostreich sein zu wissen, dass allein Christus der Richter ist? Seine Gerichtshoheit bewahrt davor, dass Menschen einander auf Gnade und Verderben ausgeliefert sind. Christinnen und Christen erkennen im Richter zugleich den Gekreuzigten; der Richter weiss also um das Leiden, das Menschen einander zufügen können. Ihm sollten die Opfer ihr eigenes leidvolles Schicksal anvertrauen können und dürfen.

Massstab göttlichen Richtens ist Gottes unendliche Liebe. Das bedeutet keineswegs, dass Christus alles verziehe. Als der Gekreuzigte ist er solidarisch mit allen Opfern der Geschichte. Er verurteilt entschieden unrechte Gewalt. Und selbst diejenigen, die nach einem Prozess schmerzhafter Reue in den himmlischen Festsaal eingelassen werden, «sitzen am Ende nicht neben den Opfern in gleicher Weise an der Tafel des ewigen Hochzeitsmahls, als ob nichts gewesen wäre», so Papst Benedikt XVI.

Auf vielen Darstellungen des Weltgerichts gehen aus dem Mund Christi Lilie und Schwert hervor: die Lilie als Sinnbild der Barmherzigkeit, das Schwert als Sinnbild der Gerechtigkeit. «Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung», sagte treffend Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert. Zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bleibt eine unaufhebbare Spannung. Sie kennzeichnet nicht nur das Leben der Menschen, sondern auch das Richten Gottes.

Dirk Ansorge


Dirk Ansorge

Prof. Dr. Dirk Ansorge (Jg. 1960) studierte Theologie und Philosophie in Bochum, Jerusalem und Strassburg. Nach langjähriger Tätigkeit in der theologischen Erwachsenenbildung ist er seit 2012 Professor für das Fach Dogmatik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a. M. Zugleich ist er Leiter des Alois-Kardinal-Grillmeier-Instituts für Dogmengeschichte, Ökumene und interreligiösen Dialog.