Die Gerechtigkeit der «Queen of Crime»

Lady Agatha Christie (1890–1976) ist bis heute die wohl erfolgreichste Verfasserin von Kriminalromanen. Am Schluss ihrer Werke sollte jeweils Gerechtigkeit geschehen – nötigenfalls durch Selbstjustiz.

Mit dem 1921 erschienenen «The mysterious affair at Styles» («Das fehlende Glied in der Kette») führte Lady Agatha Christie den belgischen Detektiv Hercule Poirot, der allein mit der Kraft «der kleinen grauen Zellen» unzählige Fälle lösen sollte, in die Welt der Krimis ein. Einige Jahre später folgte ihm die alte Jungfer Jane Marple, die – völlig anders als in den Verfilmungen mit Margareth Rutherford – Fälle durch blosses Zuhören und Parallelenziehen löste. In Christies 66 Kriminalromanen (neben denen noch viele Kurzgeschichten und ganz andere Werke bis hin zu Weihnachtserzählungen stehen) treten noch unzählige andere Hauptpersonen auf.

Agatha Christie war ein sehr traditionsbewusstes und konservativ denkendes Mitglied des gehobenen britischen Mittelstands. Viele ihrer Werke spielen in Welten, in denen es den Protagonistinnen und Protagonisten nie an Geld mangelt. So setzt sie auch bei den Mördern und Täterinnen ganz andere Akzente als etwa Georges Simeon, mit dem sie wegen des Umfangs des Oeuvres verglichen werden könnte. Sind die von Kommissar Maigret überführten Menschen häufig arme und/oder getriebene Wesen, handeln Christies Täterinnen und Täter meist kaltblütig geplant und aus egoistisch-materiellen Motiven. Hier nun verbindet sich die konservative Weltsicht der Autorin, die immer dezidierte Anhängerin der Todesstrafe war, mit einem ihrer faszinierendsten Züge, dem Wunsch, dass Gerechtigkeit auch im äussersten der Fälle, jenseits des öffentlichen Rechts, als Selbstjustiz moralisch erlaubt sein muss. Dies sei nun an dreien ihrer Werke dargelegt.

«Murder on the Orient Express»1

Dieser schon zweimal prominent verfilmte Roman entstand 1934 und spielt im Salonwagen des Orientexpresses, der von Istanbul nach Paris unterwegs ist, und in dem Hercule Poirot aus blossem Zufall landet. Inmitten der international zusammengesetzten Passagiere wird ein amerikanischer Geschäftsmann in der Nacht mit zwölf Messerstichen ermordet. Zwölf Stiche, zwölf Geschworene in einer Jury – was Poirots Gesprächspartner feststellt, ist auch die Lösung des Falls. Die Reisenden im Wagen samt dem Schaffner haben den Mord gemeinsam begangen und so die Entführung und Ermordung des Armstrong-Babys2 gerächt. Poirot stellt in seiner obligaten Aufklärungsrede auch noch die Variante eines entflohenen Einzelmörders in den Raum, die alle mit Dankbarkeit als die richtige annehmen.

«Ten Little Niggers»3

In diesem Roman von 1939 ohne aktiven Detektiv wird nun das obige Schema auf den Kopf gestellt. Alle zehn Bewohnerinnen und Bewohner einer Villa auf einer einsamen Insel, acht Gäste und zwei Bedienstete, werden tot aufgefunden, neun ermordet, eine beging Suizid. Eine geheimnisvolle Schallplatte, die ihnen vorgespielt wurde, bezichtigte alle zehn eines ungeahndeten Mordes, für den sie nun büssen müssen. Die Lösung des Falls, in einer Flaschenbotschaft Monate später ans Ufer gespült, zeigt einen der zehn, einen Richter, als Täter. Er, bislang unschuldig, hat die anderen neun und vorher einen Helfer gerichtet und so der Gerechtigkeit nachgeholfen.

«Curtain»4

Nach dem Tod von Lady Agatha erschienen 1975 zur allgemeinen Überraschung zwei Romane, die sie Jahrzehnte früher verfasst und dann ins Geheimfach «Nach dem Tod zu öffnen» gelegt hatte. Neben dem letzten Roman mit Miss Marple (die dabei nicht stirbt) tritt in «Curtain» Hercule Poirot von der Bühne ab und verbindet seinen Abgang mit einer so hübschen Pointe, dass ich sie den Lesenden hier nicht verraten möchte. Im zur Pension umgebauten früheren Herrenhaus Styles, in dem er gemeinsam mit Captain Hastings (Poirots Doktor Watson) seinen allerersten Fall gelöst hat, bringt er einen von ihm nur als X bezeichneten Serienmörder zur Strecke.

Heinz Angehrn

 

1 auf Deutsch: «Der rote Kimono».

2 Christie wurde von der Entführung und Ermordung des Lindberg Babys zu diesem Werk inspiriert.

3 Heute «And Then There Were None», auf Deutsch: «Und dann gabs keines mehr».

4 auf Deutsch: «Vorhang».

 

 


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.