«Sie hadern mit ihrem Schicksal»

In unserer Rechtsprechung kommt den Gerichten die Aufgabe zu, gerechte Urteile zu fällen. Doch was ist gerecht? Der langjährige Gerichtspsychiater Josef Sachs kennt diese Problematik.

Josef Sachs (Jg. 1949) ist forensischer Psychiater und Psychotherapeut FMH und war langjähriger Gerichtspsychiater. Seit 2015 hat er eine Praxis für Forensische Psychiatrie in Brugg.

 

SKZ: Das Reden von Gerechtigkeit oder einem gerechten Urteil fällt leicht, doch nicht alle verstehen darunter dasselbe. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Josef Sachs: Viele Menschen verwechseln Recht und Gerechtigkeit. Ein Urteil muss dem Recht, also dem Gesetz Nachachtung verschaffen. Gerechtigkeit ist dem gegenüber ein subjektives Gefühl. Diesem Gefühl kann durch die Rechtsprechung mehr oder weniger Nachachtung verschafft werden. Für die Eltern, deren Kind von einem Sexualstraftäter missbraucht wurde, ist keine Bestrafung des Täters zu hart. Ganz anders sehen es vielleicht die Eltern des Täters, die ihrem Sohn die Chance geben möchten, sich zu bessern. Der Öffentlichkeit besonders schwer vermittelbar sind jugendstrafrechtliche Urteile, die einen pädagogischen Ansatz verfolgen, sodass es oft keine «gerechte Strafe» und keine Vergeltung des angerichteten Unrechts gibt. Als in Spreitenbach eine 13-Jährige auf Social-Media-Plattformen so gemobbt wurde, dass sie sich danach das Leben nahm, wurde ihr dafür mitverantwortlicher Ex-Freund wegen Nötigung lediglich zu einem gemeinnützigen Arbeitseinsatz von sieben Tagen verurteilt. Davon musste er nur vier Tage wirklich leisten, für die restlichen drei Tage wurde ihm der bedingte Vollzug gewährt. Darauf reagierten die Eltern des Opfers und weite Teile der Öffentlichkeit mit Empörung.

Gibt es Täterinnen und Täter, die ihre Tat als gerecht ansehen?
Ja, das gibt es öfter als man denkt. Klassisch sind die Figuren von Robin Hood und Arsène Lupin, die reiche Ausbeuter ausraubten und das Diebesgut den Armen verteilten. Gewisse Täterinnen und Täter sehen sich allerdings selber in der Rolle der Armen, die in ihrer Not nicht anders konnten, als eine Bank, die ja mehr als genug Geld hat, zu überfallen. Wieder andere sagen, das Opfer habe sie derart provoziert, dass die Gewalttat sozusagen die logische Folge seines Verhaltens war.

Können alle Täterinnen und Täter ein- sehen, dass eine Bestrafung ihrer Tat in den Augen der Menschen gerecht ist? Wenn nicht, warum nicht?
Viele Täterinnen und Täter finden, sie würden ungerecht bestraft, weil die Tathandlung ganz anders als vom Gericht dargestellt abgelaufen sei. Sie seien zum Beispiel vom Opfer bedroht worden, das Opfer habe sie provoziert oder habe sie in ihrer Ehre verletzt. Deswegen müssten sie milder oder gar nicht bestraft werden. Ein Mann, der seine Frau getötet hatte, sagte aus, er habe beobachtet, dass seine Frau eine Beziehung mit einem anderen Mann pflegte. Als er sie zur Rede gestellt habe, soll sie ihn in einer Weise mit einem Messer bedroht haben, dass er sie habe töten «müssen», um sein eigenes Leben zu retten. Als das Gericht ihm diese Version nicht glaubte, witterte er eine gegen ihn gerichtete Verschwörung. Er reagierte mit Verbitterung und Resignation. Solche unterschiedlichen Einschätzungen der Realität von Tätern, Opfern und Gericht sind nicht selten.

Was bedeutet es für die Opfer respektive deren Angehörige, wenn die Täterinnen und Täter ihre Schuld nicht einsehen können?
Für das Opfer und die Angehörigen ist es zunächst wichtig, dass der Täter oder die Täterin eine – in den Augen des Opfers – gerechte Strafe erhält. Das hilft ihnen bei der Verarbeitung des erlittenen Traumas. Wenn Täterinnen und Täter die Schuld nicht einsehen, fühlt sich das Opfer in seinem Erleben nicht ernst genommen. Das erschwert es ihm, das Erlebte zu verarbeiten und wieder ein unbelastetes Leben zu führen.

Und was bedeutet es für die Täterinnen und Täter selbst?
Täterinnen und Täter, die ihre Schuld nicht einsehen können oder wollen, fühlen sich zu Unrecht bestraft. Sie hadern mit ihrem Schicksal und entwickeln Ressentiments gegen Gerichte und Behörden. Oft haben sie das Gefühl, die ganze Welt sei gegen sie. Einige resignieren, andere hegen Rachegefühle. Vielfach entsteht ein personalisierter, gegen eine ganz bestimmte Person gerichteter Hass. Ein Gewaltstraftäter sagte mir zum Beispiel: «Wenn mir dieser Richter noch einmal unter die Augen kommt, hat er nachher keine Augen mehr.»

Es gibt Menschen, die als schuldunfähig eingestuft werden. In diesen speziellen Fällen gibt es für die Opfer resp. deren Angehörige kein «gerechtes» Urteil. Was kann das für diese bedeuten?
Das ist unterschiedlich. Täterinnen und Täter, die im Zustand der Schuldunfähigkeit eine schwere Straftat begangen haben, werden oft in eine geschlossene Klinik eingewiesen. In diesen Fällen sind sie für eine unbestimmte Zeit weggesperrt, nicht selten länger, als die Gefängnisstrafe dauern würde. Diese Massnahme empfinden Angehörige meistens als «gerechte» Strafe, obwohl es sich nicht um eine Strafe im Wortsinn handelt. In den Fällen, in denen keine geschlossene therapeutische Unterbringung angeordnet wird, reagieren die Opfer und deren Angehörige nicht selten mit Unverständnis. Anders ist es in Extremfällen mit politischer Bedeutung. Anders Breivik, der 2011 auf der norwegischen Insel Utøya und in Oslo 77 Menschen umgebracht hatte, wurde als schuldfähig erklärt und entsprechend bestraft. Das war für die Norwegerinnen und Norweger wichtig. Hätte er – wie einer der Gutachter es verlangt hatte – als psychisch krank und schuldunfähig gegolten, wäre der Verarbeitungsprozess für die Bevölkerung wesentlich schwieriger gewesen.

Für eine Versöhnung mit sich selbst und auch mit den Opfern braucht es neben Einsicht auch Reue. Wie haben Sie dies in Ihrer langjährigen Tätigkeit als Gerichtspsychiater erlebt?
Viele Täterinnen und Täter, die zu ihrer Straftat stehen, bekunden Reue. Dabei handelt es sich in einer ersten Phase aber meistens um eine Tatfolgereue. Das heisst, dass sie nicht die Tat an sich bereuen, sondern deren Folgen für sich und eventuell auch das Opfer bedauern. Die Bereuung der Tat an sich entwickelt sich häufig erst im Rahmen eines längeren Prozesses. Bei der Begleitung des Prozesses kann die Gefängnisseelsorge eine wichtige Rolle spielen. Ausdruck dieser Reue kann der Versuch der Wiedergutmachung sein, zum Beispiel indem die Täterin oder der Täter einen Beitrag zur Verminderung des angerichteten materiellen Schadens leistet oder sich bei den Opfern entschuldigt.

Spielt die Religion oder Gott bei Täterinnen und Tätern resp. bei den Opfern und ihren Angehörigen eine Rolle?
Viele Straftäter, denen ich in den Gefängnissen und bei psychiatrischen Begutachtungen begegnet bin, sind religiös überdurchschnittlich ansprechbar. Sie sind aus der Gesellschaft ausgeschlossen und stigmatisiert, weshalb sie ein Bedürfnis nach Religion im buchstäblichen Sinn der «Rück-Bindung» haben. Einige lesen in der Bibel oder im Koran, erstaunlich viele beten regelmässig. Ich habe den Eindruck, dass es dabei weniger um die Frage der Gerechtigkeit geht als um die Sinnsuche, das Bedürfnis nach einer Beziehung und die angstlösende Wirkung vertrauter Rituale. Die Opfer und deren Angehörige sprechen ganz unterschiedlich auf religiöse Angebote an. Meistens geht es ihnen um seelsorgerliche Unterstützung bei der Bewältigung des erlittenen Traumas.

Interview: Rosmarie Schärer