Universaler Wahrheitsanspruch und religiöse Vielfalt

Wahrheitsanspruch und Toleranz scheinen auf den ersten Blick unvereinbar. Die Wahrheitsverständnisse der drei monotheistischen Religionen zeigen Wege einer Vereinbarkeit auf. Annette Boeckler, Samuel Behloul und Amir Dziri geben Auskunft.

Judentum: Eine besondere Stimme unter vielen

Das Judentum ist seinem Wesen nach eine Religion der Unterscheidungen. Wir unterscheiden zwischen Schabbat und Werktagen, zwischen heilig und profan, zwischen Gott und Welt, zwischen Israel und dem Rest der Welt. Doch das 19. Jh., die Zeit, in der das moderne Judentum entstand, betonte unsere Verbundenheit mit allen Völkern der Erde. Wir wollten damals Teil unserer Gesellschaften sein – ein Bestreben, dass mit der Schoah gründlich gescheitert ist.

Wollen wir heute im 21. Jh. universal sein? Waren wir es eigentlich je wirklich? In der Diskussion des 19. Jh. reagierten jüdische Religionsphilosophen auf christliche Vorstellungen der Entwicklung der Religionen aus primitiven partikularistischen Anfängen hin zum universalistischen Christentum, indem diese jüdischen Philosophen betonten, das Judentum sei seinem Wesen nach von Anfang an universalistisch. Solomon Formstecher zeigte zum Beispiel in seinem Werk «Religion des Geistes» (1841), dass das Judentum eine notwendige Ausprägung ist und seine Entwicklung stets in Richtung einer universellen Religion für die gesamte zivilisierte Menschheit tendierte. Der Universalismus zeigt sich heute zum Beispiel darin, dass das Judentum, wo es «missionarisch» agiert, sich für gesamtgesellschaftliche Belange engagiert (soziale Gerechtigkeit, Ökologie usw.), ansonsten aber die theologischen und ideologischen Meinungen anderer als gleichberechtigt gelten lässt und nicht versucht, anderen die eigenen Positionen aufzudrängen. Insofern wirkt es gesellschaftspolitisch universal und Vielfalt fördernd. Doch ist es wirklich universalistisch? Leo Baeck forderte seine Glaubensgeschwister kurz nach seiner Zeit im Konzentrationslager in einer Rede im Jahr 1946 auf, das Judentum müsse missionieren, die Welt brauche dringend die ethischen Werte des Judentums. Dies entspricht der prophetischen Vision, dass eines Tages alle Völker unseren Gott anerkennen werden: Alle werden sich an die ethischen Richtlinien der Tora und der Propheten halten. Diese Sicht ist natürlich stark von der eigenen Perspektive geprägt und nicht wirklich universalistisch. Rabbiner Abraham J. Heschel fragte 1966 in seinem Aufsatz «No religion is an island»: «Ist es wirklich unser Wunsch, eine monolithische Gesellschaft zu bilden – eine universale Partei, eine Sichtweise, einen Leiter, und keine Opposition? Ist religiöse Uniformität wünschenswert oder gar möglich? Verlangt nicht die Aufgabe, das Anbrechen des Reiches Gottes in dieser Welt vorzubereiten, tatsächlich eine Diversität von Talenten, eine Vielfalt von Ritualen, verschiedene Formen der Spiritualität und auch eine Opposition? Vielleicht ist es Gottes Wille, dass es in diesem Jahrhundert eine Diversität der Formen und religiösen Ausdrucksweisen und der Gottesverehrung gibt?» Jüdinnen und Juden bringen hier ihren Universalismus zum Ausdruck, indem sie ihre partikulare Stimme als eine besondere Stimme in den Dialog einbringen. Gemeinsam in unserer Vielfalt schaffen wir unsere multikulturelle Welt, lernen Dialog und Konfliktfähigkeit.

Annette M. Boeckler1

 

Christentum: Den Wahrheitsanspruch ernst nehmen

«Religion, die es ernst meint, ist nicht tolerant» schrieb der Medienwissenschaftler Norbert Bolz in der Frankfurter Rundschau (28.11.2002) zur Frage nach dem Verhältnis von Religion und säkular-liberalem Staat. Bolz begründete seine Feststellung mit dem Argument, dass jede Religion, die ihren Wahrheitsanspruch ernst nimmt, zwingenderweise «einen privilegierten Zugang zur Wahrheit» beansprucht und in einem religiös und weltanschaulich pluralen Kontext intolerant sein muss (ebd.). Bolz' Argumentationsmuster folgt dem in den Religionsdiskursen der westlich-liberalen Gesellschaften geläufigen Narrativ, dass Religionen aufgrund ihres universal verstandenen Wahrheitsanspruches ein strukturelles Problem mit der Intoleranz haben (müssen). Diesen Diskursen liegt ein spezifischer Ausschlussmechanismus zugrunde: Erst die Relativierung ihrer als absolut und universal verstandenen Wahrheitsansprüche befähigt die Religionen zur Toleranz. Sind universal verstandene religiöse Wahrheitsansprüche und Toleranz tatsächlich systemisch unvereinbar? Aus der Religionsgeschichte lassen sich zahlreiche Beispiele anführen, die belegen, dass so gut wie keine Religionstradition gegen eine ideologische Absolutsetzung des eigenen Wahrheitsanspruches und der damit einhergehenden Intoleranz immun ist. Die Wahrheitsfrage wird dabei auf eine exklusive Ideologie reduziert. Vor ideologischen Engführungen religiöser Wahrheitsansprüche scheint bereits Paulus in 2 Kor 4 zu warnen: «Wir verkünden nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesus willen.»

Was Paulus hier pointiert zum Ausdruck bringt, ist die eigentliche theologische und die handlungsethische Mitte des christlichen Wahrheitsanspruches in seiner universalen Tragweite: Gott ist Mensch geworden und hat auf diese Weise seine eigene Existenz mit der des Menschen verknüpft. Aus dieser spezifisch christlichen Verbindung von Theologie und Anthropologie ergibt sich eine Relationalität des Göttlichen und des Menschlichen mit handlungspraktischen Konsequenzen für den christlichen Wahrheitsanspruch: Das Menschliche verdrängt nicht das Göttliche – im Sinne einer Aneignung göttlichen Willens durch menschliche Autoritäten. Und das Göttliche verdrängt nicht das Menschliche – im Sinne einer an bestimmte religiöse Zugehörigkeitskriterien gebundenen Toleranz gegenüber anderen Menschen. Das ist der eigentliche Kern der Universalität des christlichen Wahrheitsanspruches. Die Grundvoraussetzung der Universalität ist die Anerkennung der Vielfalt. Und einen solchen Wahrheitsanspruch gilt es ernst zu nehmen.

Samuel M. Behloul2

 

Islam: Wahrheit als Herausforderung

Der Begriff der Wahrheit durchlebt schwierige Zeiten: Wer spricht heutzutage noch von Wahrheit? Nicht erst seitdem sich in der Philosophie der Blick auf die Welt als ein rein konstruktivistischer durchgesetzt hat. Auch nicht erst seit der Rede über ein postfaktisches Zeitalter, in dem jeder seine eigene Weltsicht ganz unabhängig jeglicher Bemühung um Objektivität generieren kann. Der Wahrheitsbegriff ist aktuell stark aus der Mode geraten und stellt gerade Religionsgemeinschaften vor grosse Herausforderungen. Jede Religion, wie auch der Islam, lebt von der Wucht und der Überwältigung, die die Vorstellung von Wahrheit entfaltet. Einer der häufigsten Namen für Gott im Koran ist al-haqq, die Wahrheit (vgl. Sure 22:6). Die Verkündung des Korans als Ausdruck göttlicher Rede wird selbst als Wahrheit beschrieben. In Sure 27:79 wird Muhammad zugerufen: «Setze dein Vertrauen auf Gott (allein) – denn, siehe, das, woran du glaubst, ist evidente Wahrheit.» Wahrheit wird koranisch demgemäss immerzu als Ausdruck des göttlichen Seins und insofern als Zusammenhang von Gottes-Sein und Welt-Sein verstanden. Ein derart essenzieller Wahrheitsbegriff bringt zwei zentrale Herausforderungen mit sich. Zum einen stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Wahrheit und Ethik, zum anderen die Frage nach dem Verhältnis von islamischer Wahrheit zu Wahrheitsansprüchen anderer Religionen und Weltanschauungen.

Eine Idee von Wahrheit, die Gottes-Sein und Welt-Sein zusammendenkt, berührt automatisch Fragen menschlicher Ethik. So wird das moralisch gute Handeln im Koran eng verknüpft mit dem Gottes-Sein. Das Einräumen der Freiheit, autonome ethische Entscheidungen zu treffen, schützt den Menschen laut muslimischer Theologie jedoch vor einer drohenden Überforderung durch einen Wahrheitsbegriff, der an das Wesen Gottes geknüpft ist.

Auch für das Verhältnis des islamischen Wahrheitsanspruches gegenüber Wahrheitsansprüchen anderer Religionen ist die Vorstellung eines Zusammenhangs von Gottes Wesen und Wahrheit prägend. Der Koran geht von einer Offenbarungskontinuität aus, die neben dem Koran weitere Offenbarungen umfasst. Vor allem die abrahamitischen Religionen geniessen als «Buchreligionen» eine erhöhte Wertschätzung. Diese Vorstellung von Offenbarungskontinuität ist sicherlich inklusivistisch, womit die Frage nach Anerkennung eines autonomen Wahrheitsanspruches anderer Religionen nicht beseitigt ist. Für den Koran scheint es eine stete Herausforderung zu sein, einerseits in einem respektvollen aber gleichsam fordernden Gespräch mit anderen Offenbarungstraditionen zu stehen und andererseits weiteren Religionen eine Wahrheitsautonomie zuzugestehen. Letztlich formuliert der Koran jedoch unmissverständliche Aussagen, die als universelle Imperative das individuelle Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit schützen (2:256): «Es soll keinen Zwang geben in Sachen des Glaubens».

Amir Dziri3

 

1 Dr. Annette M. Böckler (Jg. 1966) ist Rabbinatsstudentin am Levisson Instituut Amsterdam. Sie war bis 2017 Dozentin für jüdische Bibelauslegung und Liturgie am Leo Baeck College London.

2 Tit. Prof. Dr. Samuel M. Behloul (Jg. 1968) ist seit 2016 Fachleiter Christentum am ZIID. Er studierte Theologie, Arabistik und Islamwissenschaft, war von 2013 bis 2016 Nationaldirektor von Migratio der SBK.

3 Prof. Dr. Amir Dziri ist seit 2017 Professor für Islamische Studien und Leiter des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft der Universität (SZIG) Freiburg i. Ue.

 

BONUS

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