«Toleranz ist eine notwendige Tugend»

In kulturell und religiös pluralen Gesellschaften ist für das friedliche Zusammenleben Toleranz unabdingbar. Toleranz meint aber weder Gleichgültigkeit noch Gutheissen, vielmehr fordert sie heraus. Über die Toleranz sprach die SKZ mit Daniel Bogner.

Prof. Dr. Daniel Bogner (*1972) studierte Theologie, Politikwissenschaft und Philosophie in Münster, Freiburg i. Ue. und Paris. Seit 2014 ist er Ordentlicher Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität in Freiburg i. Ue. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind Fragen der Rechtsethik und des Zusammenhangs von gläubiger Existenz und politischer Orientierung. Er ist Redakteur des theologischen Online-Feuilletons www.feinschwarz.net. (Bild: Corinne Aeberhard)

 

SKZ: Das Thema dieser Ausgabe lautet «Wahrheit und Toleranz». Widersprechen sich Wahrheit bzw. Wahrheitsanspruch und Toleranz nicht? Wie können Wahrheitsanspruch und Toleranz zusammengehen?
Daniel Bogner: Im Grunde bedingen sich beide sogar gegenseitig. Denn tolerant gegenüber einer anderen Position kann nur sein, wer auch selbst eine feste Position hat, von der er oder sie wirklich überzeugt ist, also sie für wahr hält. Alles andere wäre eher ein Nebeneinanderher-Existieren, ohne dass man sich zueinander in ein Verhältnis setzen würde.

Wann ist von Toleranz zu sprechen und wann nicht?
Toleranz ist eine Haltung, die sich sowohl im individuellen Verhalten gegenüber Mitmenschen als auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene ausdrücken kann. Wer tolerant ist, duldet anderes. Er oder sie lässt zu, dass Positionen, Meinungen, auch Handeln und Verhalten anderer, die nicht den eigenen Werten oder Überzeugungen entsprechen, existieren dürfen. Das bedeutet nicht, dass ich diese Positionen teilen oder innerlich akzeptieren muss.

Was macht Toleranz denn so schwierig?
Bei vielen Fragen, gerade bei ethisch wichtigen Fragen, ist es nicht so leicht hinzunehmen, dass andere einer ganz anderen «Wahrheit» folgen als ich selbst! Das kann mich provozieren, verärgern, herausfordern.

Der deutsche Philosoph und Politikwissenschaftler Rainer Forst sagt, dass Toleranz ein Konfliktbegriff ist. Teilen Sie diese Bestimmung?
Ja, es ist umstritten und oft auch nicht so einfach zu beurteilen, ob eine tolerante Haltung wirklich einen inneren Aufwand ausdrückt und damit ethisch wertvoll ist – oder ob es schlicht der einfachere Weg ist, anderen gegenüber eben «tolerant» zu sein und damit die Auseinandersetzung um die richtige Position zu vermeiden. Letzteres würde ich, wie gerade angedeutet, allerdings gar nicht mehr mit dem Begriff der Toleranz bezeichnen. Ich glaube auch, diese Schwierigkeit kann man nicht vermeiden. Wer in einer pluralen Gesellschaft unterwegs ist, in der Freiheit von Meinung und Überzeugung gilt, aber dennoch an einer nicht nur zufälligen eigenen Position festhält, kommt gar nicht umhin, um eine angemessene Toleranz gegenüber anderen zu ringen.

Wie entwickelte sich der Toleranzbegriff in den letzten Jahrhunderten?
In religiös homogenen, noch nicht diversifizierten Gesellschaften ist die Herausforderung an Toleranz natürlich eine ganz andere als in einer Situation religiöser Vielfalt, wie wir sie spätestens seit den Religionskriegen und der Reformation in Europa und der Schweiz kennen. In der Moderne haben sich die Menschenrechte, vor allem das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, als zentrale Instrumente entwickelt, die eine Haltung der Toleranz unterstützen, sie institutionalisieren. Damit ist etwas Entscheidendes geschehen: Man muss nicht mehr darauf hoffen, von den anderen toleriert zu werden, sondern kann sich auf ein Recht berufen. Es ist das Recht auf die eigene Wahrheit – so schräg das in den Ohren religiös überzeugter Menschen auch klingen mag.

Inwieweit beförderte oder behinderte das Christentum die Entwicklung der Toleranz?
Das Christentum musste in mühsamen Kämpfen erst lernen, dass die Akzeptanz einer Vielfalt von Überzeugungen nicht bedeutet, die eigene Wahrheit aufzugeben, sondern dass es deren Glaubwürdigkeit sogar stärkt. Wenn die christliche Position nicht aufgezwungen wird, sondern in einer Atmosphäre der echten Freiheit angeboten und dann angenommen werden kann, entspricht das ja der Botschaft von einer den Menschen nicht überwältigenden, sondern als Bund angebotenen Beziehung zu ihrem Gott.

Was erfordert Toleranz vom Einzelnen und der Gesellschaft?
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Eine tolerante Gesellschaft hält verbindlich fest, was für das Zusammenleben in ihr wirklich unverzichtbar ist. Dafür ist das Recht und sind vor allem die Grund- und Menschenrechte in der Bundesverfassung ein zentrales Element. Dann kann eine solche Gesellschaft aber auch zulassen, dass Menschen in ihrer ganzen Vielfältigkeit und Kreativität die unterschiedlichsten Wege einschlagen, um ihr Leben zu gestalten und von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen. Als Einzelner bin ich immer aufgerufen, dem anderen dieses Recht auf die eigene Interpretation seiner Freiheit zuzugestehen – auch wenn es mir manchmal gegen den Strich geht. Toleranz gegenüber anderen macht es hin und wieder erforderlich, Farbe zu bekennen: Nicht in der Weise, dass ich andere bevormunde und verurteile, aber dass ich im Zweifelsfall auch nach aussen sichtbar mache, wofür ich stehe und was mich zu meiner Position führt.

Inwieweit darf oder muss der Staat von den Einwohnerinnen und Einwohnern Toleranz einfordern?
Wenn die Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft nicht von sich aus gegeneinander Rücksicht und Toleranz praktizieren würden, wäre der Staat immerzu gefordert, die Konflikte zu schlichten, die aus widerstreitenden Überzeugungen und Wahrheitspositionen zwangsläufig erwachsen. Das Ergebnis wäre ein ständig intervenierender Staat, den wir als übergriffig und lästig empfinden würden. Wo der Staat Freiheit gewährt und nicht vorschreibt, an welche Wahrheit seine Bürgerinnen und Bürger zu glauben haben, braucht es auf der anderen Seite auch eine «erwachsene», reife Bürgerinnen- und Bürgergesellschaft. Toleranz kann der Staat selbst nicht auf dem Rechtsweg vorschreiben, aber damit er als freiheitlicher Staat überhaupt existieren kann, ist er auf solche Toleranz dringend angewiesen.

Populistische und rechtsextreme Bewegungen und Parteien verzeichnen in Europa einen starken Zuwachs. Wie ist dieser Entwicklung zu begegnen?
Die Politik muss ehrlich, transparent und klar kommunizieren, sie muss falsche Versprechungen vermeiden und formulieren, was sie zu leisten vermag und was nicht. Wo bei den Bürgerinnen und Bürgern ein Bewusstsein für den Wert einer freiheitlichen Gesellschaft wächst, sind sie bereit, auch die Zumutungen, die damit immer verbunden sind, in Kauf zu nehmen: dass es eben immer auch andere gibt, deren Positionen ich weniger schätze als die eigenen, denen ich aber dennoch nicht gleich die Existenzberechtigung absprechen darf. Weil ich ansonsten auch die Grundlagen meiner eigenen Existenz ankratzen würde.

Wo beginnt die Intoleranz und wo ist Nulltoleranz angesagt?
Keine Toleranz sollte man ausüben im Blick auf Positionen, die grund- und menschenrechtliche Freiheitsverbürgungen bestreiten, denn sie sind die Unterkante des Zusammenlebens überhaupt. Die Qualität der Freiheit zeigt sich immer am Mass der Freiheit, das anderen und auch Minderheiten zugesprochen wird. Noch pointierter kann man sagen: Wer anderen die elementaren Merkmale der Menschenwürde abspricht, verdient keine Toleranz. Weil solche Toleranz à long terme letztlich zur Abschaffung auch der eigenen Existenzberechtigung führen würde und in einer totalitären Herrschaft endet.

Welche alternativen Modelle zur Toleranz gibt es für ein gutes Zusammenleben verschiedener Religionen und Kulturen?
Ich sehe nicht, dass man ohne ein Mindestmass an Toleranz auskommen kann, wenn man sich nicht in eine weltanschaulich geschlossene, einheitliche Traumwelt, die vollkommen irreal ist, hineinwünschen will. Toleranz ist sozusagen eine notwendige Tugend, die braucht, wer an eigenen Überzeugungen festhalten will und auch den Anspruch hat, mit solchen Überzeugungen eine Gesellschaft gestalten zu wollen. Wahrheit und Toleranz sind deswegen ein Doppel, das man nicht trennen sollte.

Interview: Maria Hässig