Abschied vom Mythos religiöser Neutralität

Der Schweizer Rechtsstaat ist aufgrund seiner jüdisch-christlichen Prägung keineswegs religiös neutral. In Zeiten zunehmender religiöser Pluralität bedarf es eines neuen Paradigmas: Religiöse Toleranz.

Gibt es den Teufel, so sitzt er nicht nur – wie das Sprichwort meint – im Detail. Zu seinen Lieblingsorten gehören namentlich auch die absoluten Wahrheitsansprüche. Dort treibt er sein Unwesen. Wahrheit ist ein rares Gut. Das gilt in religiösen Belangen ganz besonders. Doch sind es vor allem die vermeintlichen religiösen Wahrheiten, die der Menschheit schon so viel Leid gebracht haben. Die blutigen Glaubenskriege und bissigen Kulturkämpfe vergangener Zeiten liefern hierfür besonders abschreckende Beispiele. Aber bleiben wir in der Gegenwart.

In einer Welt zunehmender religiöser Pluralität wird die Zahl religiöser Wahrheiten und damit auch die Gefahr gesellschaftlicher Konflikte ansteigen. Für den Staat, der nach der Bundesverfassung (Art. 72 Abs. 2) den «öffentlichen Frieden zwischen den Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften» wahren sollte, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Welches ist seine Rolle in diesem Wettbewerb um letzte Wahrheiten? Die Antwort ergibt sich – jedenfalls nach überwiegender juristischer Lehrmeinung – aus dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 Bundesverfassung). Danach soll der Staat den Gläubigen und ihren Glaubensgemeinschaften in erster Linie jene Freiräume sichern, die sie für ihre religiöse Entfaltung benötigen. Und darüber hinaus, so die herkömmliche Verfassungsinterpretation, ist er zu religiöser Neutralität verpflichtet.  

Religiöse Neutralität genügt nicht mehr

Ob eine derart eingeschränkte Rolle des Staates den Herausforderungen einer religiös durchmischten Gesellschaft gerecht wird, erscheint fraglich. Den Gläubigen ihre religiöse Freiheit zu garantieren und sich ansonsten in religiös neutraler Zurückhaltung zu üben, dürfte jedenfalls kaum genügen. Um den religiösen und gesellschaftlichen Frieden nachhaltig zu sichern, bedarf es eines in religiösen Belangen aktiveren Staates. Von ihm ist zu erwarten, dass er an vorderster Front den offenen Dialog mit den Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlichster Glaubensbekenntnisse führt. Ausserdem sollte er vor den sozialen Gefahren absoluter religiöser Wahrheitsansprüche warnen und gleichzeitig gesellschaftliche Lernprozesse in Gang setzen, die uns den friedvollen Umgang sowohl mit eigenen als auch mit fremden Wahrheitsvorstellungen beibringen und so helfen, den «Teufel» in die Schranken zu weisen.  

Jüdisch-christliche Prägung

Die dem Staat auferlegte religiöse Neutralität und Zurückhaltung wirkt sich in Bezug auf solche Aktivitäten jedoch eher lähmend aus. Grund genug, das Dogma religiöser Neutralität, das notabene bis heute den Weg in den Verfassungstext nicht gefunden hat, kritisch zu hinterfragen.

Schon ein erstes, etwas näheres Hinsehen offenbart eine tiefe Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Ein religiös neutraler Staat dürfte streng nach dem Wortsinn keinen eigenen religiösen Standpunkt haben. Einen solchen hat unser Staat aber offensichtlich. Da sind zum einen die offensichtlichen Zeichen christlicher Staatlichkeit (Nationalflagge, religiöse Feiertage, Wegkreuze, Verfassungspräambeln usw.). Und zum andern ist da auch das staatliche Personal, die Vertretung der staatlichen Macht. Alles «normale» Menschen, die in unserem Kulturkreis weitmehrheitlich jüdisch-christlich sozialisiert und geprägt sind. Und diese Prägungen wirken – glaubt man der Entwicklungspsychologie – zeitlebens, aus dem Unbewussten heraus, ungefragt und weitgehend unkontrollierbar. Der Staat und seine Repräsentantinnen und Repräsentanten sitzen insoweit alle auf einem Sockel religiöser, kultureller und historischer Zeitschichten, die ihr Denken, Fühlen und Handeln prägen.

Manche werden dem entgegenhalten, die Menschen hätten es in der Hand, sich ihrer religiösen Prägungen unter Aufbieten der Vernunft zu entledigen oder diese zumindest unter Kontrolle zu bringen. Das ist allerdings nicht so einfach. Denn die Einflüsse unserer sozialen und kulturgeschichtlichen Prägungen erweisen sich oftmals als weit beharrlicher als viele meinen. Staatlichen Amtsträgerinnen und -trägern (dazu gehören im demokratischen Staat auch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger) wird es nie ganz gelingen, ihre Amts- und Privatsphäre und die damit einhergehende Rollenvielfalt fein säuberlich voneinander zu trennen. Wer beispielsweise über Abtreibung, Migrationspolitik, Homoehe, Klimaschutz, Sozialhilfe, Waffenexport usw. nachdenkt, in welcher Eigenschaft auch immer, wird nie nur seine nüchtern unaufgeregte Vernunft zum Einsatz bringen. Vielmehr drängen sich aus den tieferen Schichten der Persönlichkeit stets auch andere, namentlich religiös-kulturell geprägte Impulse an die Oberfläche und mischen mit. Religiöse Neutralität ist unter diesen Bedingungen letztlich ein leeres Versprechen, das sich nicht glaubwürdig verwirklichen lässt. Trotzdem an diesem Mythos festzuhalten, heisst, sich und den anderen etwas vorzumachen. Langfristig ist «so tun als ob» jedoch eine wenig ratsame Strategie. Namentlich die anstehenden kommunikativen und pädagogischen Aufgaben lassen sich nur auf der Grundlage von Ehrlichkeit, Authentizität und Transparenz erfolgreich bewältigen.

Von religiöser Neutralität zu Toleranz

Die Frage ist also nicht, ob unser vermeintlich neutraler Staat überhaupt einen religiösen Standpunkt haben darf – er hat ihn! Von Interesse ist vielmehr, wie er damit in Zeiten religiöser Wahrheitsvielfalt verfährt, um den religiösen und gesellschaftlichen Frieden zu fördern und nicht zu gefährden. Hier ist ein tiefgreifendes Umdenken notwendig. Dieses hat in drei Schritten zu erfolgen:

1. Zunächst ist ein klares und entspanntes Bekenntnis zur eigenen religiösen, d. h. jüdisch-christlichen Prägung notwendig. Entspannt deshalb, weil es dabei nicht um eine normative Aussage, sondern lediglich um eine Sachverhaltsfeststellung geht. Wir können unsere Wurzeln nicht leugnen. Und vor allem können wir ihre Nachwirkungen nicht vollends neutralisieren.

2. Sodann muss diesem Bekenntnis ein entsprechender Etikettenwechsel folgen: Weg vom «neutralen» hin zum «toleranten» Staat. Dabei geht es – jedenfalls als Fernziel – nicht um die duldende Toleranz der gnädigen Mehrheit. Anzustreben ist vielmehr eine auf Respekt und Anerkennung angelegte Toleranz, was eigentlich schon mehr ist, nämlich Akzeptanz. Für absolute religiöse Wahrheitsansprüche gibt es in einem solchen geistigen Milieu fortan keinen Platz mehr, für Offenheit und Lernwilligkeit dafür umso mehr. Sich zu religiöser Toleranz zu bekennen, ist freilich nur ein Anfang. Religiöse Toleranz in Staat und Gesellschaft dann auch zu verwirklichen, eine permanente multidisziplinäre Aufgabe.

3. Und nicht zuletzt muss der Staat den Mut finden, die geistige Quelle für seine Toleranz zu erschliessen, um sie für seine politische Arbeit fruchtbar zu machen. Diese Quelle liegt nicht in der gerne überschätzten Vernunft, sondern im Gebot der Nächstenliebe. Dieses ist nicht exklusiv christlich oder jüdisch. Es markiert vielmehr als Goldene Regel der Menschlichkeit den alle Weltreligionen verbindenden ethischen Grundkonsens. Eine Jahrtausende alte Lebensweisheit. Sie kann dem Staat als Kompass und politische Leitmaxime für eine Religionspolitik dienen, die verbindet und nicht trennt. Damit hat sie gegenüber den (viel jüngeren) Grund- und Menschenrechten einen gewichtigen Vorteil. Aufgrund ihres überkulturellen und überreligiösen Charakters verspricht sie breitere Akzeptanz, während die westlich geprägten Menschenrechte bei vielen Personen aus anderen Kulturräumen gewisse Abwehrreflexe auslösen.

In einer Zeit, in der die verschiedenen Religionen samt ihren Wahrheiten allmählich aus allen Winkeln der Welt zusammenströmen und unvermittelt aufeinandertreffen, kann der Staat nicht einfach weitermachen wie bisher. Um allen Menschen, egal welchen Glaubens, eine gemeinsame religiöse Heimat zu schaffen, muss er in religiösen Belangen engagierter auftreten. Was ihn daran hindert, ist aus dem Weg zu räumen – der Mythos religiöser Neutralität zuallererst.

Markus Müller

 

Buchempfehlung: «Religion im Rechtsstaat. Von der Neutralität zur Toleranz.» Von Markus Müller. Bern 2017. ISBN 978-3-7272-0536-1, CHF 32.–. www.staempfliverlag.com


Markus Müller

Prof. Dr. Markus Müller (Jg. 1960) studierte Rechtswissenschaft an der Universität Bern und ist seit 2004 Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an derselben. Er war von 1993 bis 2004 stellvertretender Generalsekretär der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern.

 

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