«Die Schwere eines Missbrauchs wurde unterschätzt»

Im Juli erschien der Sammelband «Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Raum von Kirche». Die Autorinnen und Autoren analysieren die Aufarbeitung und Bearbeitung der sexuellen Missbräuche und orten Lernaufgaben für die Kirche.

SKZ: Sie sind Mitherausgeber dieses Sammelbandes. Was waren der Anlass und das Ziel?
Stephan Leimgruber: Anlass waren gehäufte Meldungen von Missbräuchen durch Priester aus diversen Ländern. Konrad Hilpert und ich wollten eine theologische Reflexion darüber in Gang bringen, weil die Kirche in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Anlass war auch der zehnte Jahrestag, seit der Jesuit Klaus Mertes die sexuellen Missbräuche im Canisius-Kolleg in Berlin öffentlich machte. Ziel des Sammelbandes ist es, das Phänomen in seiner Vieldimensionalität zu verstehen und die Lernaufgaben zu formulieren, die sich daraus für die Kirche ergeben. Denn: Ohne Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, die schwer und heilsam ist, kann es keine vertrauenswürdige Pastoral mehr geben.

Im Band wird eine Zwischenbilanz gezogen. Nennen Sie uns ein paar zentrale Ergebnisse dieser Zwischenbilanz.
Zwischen vier bis sieben Prozent des Klerus haben aufgrund mangelnder Reife der Persönlichkeit – und anderer Gründe – mehr oder weniger schwerwiegende Vergehen an Kindern und Jugendlichen begangen, teils einmalig, teils wiederholt. Bei Ordensleuten, Diakonen und Laien ist der Prozentsatz niedriger. Die Schwere eines Missbrauchs wurde unterschätzt. Heute sieht man die psychischen Folgen bei den Opfern: Misstrauen gegenüber den Menschen, Trauer, Depressionen, Rachegefühle, die Scheu, eine solch intime Erfahrung anzuklagen. Auch wurde die berufliche seelsorgerliche Abhängigkeit lange nicht erkannt. Und Versöhnung zwischen Tätern bzw. Täterinnen und Betroffenen ist nur bedingt möglich, weil die Wunden sehr tief sind.

Wo sehen Sie nach der Zwischenbilanz anstehende Lernaufgaben für die Kirche?
Prävention und sexuelle Bildung gehören unabdingbar zur Ausbildung zum kirchlichen Dienst, auch für die freiwillig und ehrenamtlich Mitarbeitenden. Sexualität ist dem Einzelnen als Gabe und Verantwortung anvertraut. In Schule und Religionsunterricht darf das Thema nicht ausgespart werden, es ist aber anspruchsvoll. Die digitale Welt hält in dieser Hinsicht noch einige Überraschungen bereit. Die einzelnen Diözesen brauchen auch weiterhin unabhängige Ansprechpersonen. Für die Schweiz ist nach einer Mitteilung von Daniel Kosch, Generalsekretär der RKZ, eine gesamthafte wissenschaftlich begleitete Untersuchung in Gang gebracht. Ich mag mich nicht erinnern, dass es in der Schweiz einen einschlägigen Brief der Bischöfe an die Gläubigen in dieser Hinsicht gegeben hat. Jeder Mensch hat nach christlicher Überzeugung eine unantastbare Würde und verdient Ehrfurcht. Diese wiederzugewinnen, ist eine grosse Herausforderung an alle. Das Selbstbewusstsein der Kinder und Jugendlichen zu stärken und die Fähigkeit, Nein zu sagen, sind weitere Aufgaben der Erziehung.

Sexueller Missbrauch ist nicht nur ein kirchliches, sondern ein gesamtgesellschaftliches und familiäres Problem. Welche Impulse bieten die Ergebnisse des Bandes über den kirchlichen Kontext hinaus?
Ja, es trifft tatsächlich zu, dass ein noch grösserer Teil an sexuellen Missbräuchen in der Familie geschieht, was kein Trost, aber eine Tatsache ist. Aus Rücksichtnahme auf das familiäre Leben wird vieles verschwiegen. Die Aussagen von Opfern offenbaren grosse Dunkelziffern von familiären Dramen. Es handelt sich um Opfer, welche die Kirche einlud, über gemachte Erfahrungen zu berichten. Dies sollte – wie in Deutschland – die Kirche ermuntern, mit staatlichen Behörden zu kooperieren und gemeinsam an der Aufarbeitung der Missbräuche mitzuwirken. Schliesslich ist es eine Chance, in kirchlichen und weltlichen Kontexten das Thema anzusprechen und die Wege der Interventionen zu klären. Schule und kirchliche Jugendarbeit sind hier weit vorangeschritten und haben ein gesundes Bewusstsein geschaffen für Verdachtsfälle und Vorkommnisse.

Interview: Maria Hässig

 

Buchempfehlung: «Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Raum von Kirche. Analysen – Bilanzierungen – Perspektiven». Von Konrad Hilpert, Stephan Leimgruber, Jochen Sautermeister, Gunda Werner (Hg.). Freiburg i. Br.
2020. ISBN 978-3-451-02309-5, CHF 88.90. www.herder.de


Stephan Leimgruber

Prof. em. Dr. theol. Stephan Leimgruber (Jg. 1948) war von 1998 bis 2014 Professor für Religionspädagogik an der Universität München. Nachher war er Spiritual am Seminar St. Beat des Bistums Basel und priesterlicher Mitarbeiter in verschiedenen Pfarreien.

 

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