Renaissance des Seelenbegriffs

Auferstehung der Toten und das Wiegen der Seelen in der Bilanz beim Jüngsten Gericht. Mittelalterliche Miniatur. (Bild: Alamy)

 

«Rette Deine Seele!» Mein Professor für Kirchengeschichte erzählte, wie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil nach einer Gemeindemission die Prediger oft ein grosses Holzkreuz mit dieser Aufschrift hinterliessen. Sein Kommentar war einprägsam: Drei Worte – drei Häresien: «Rette» – als ob der Mensch sich selbst retten kann. «Deine» – als ob es um den Einzelnen und nicht um die Menschheit, ja die ganze Schöpfung ginge. «Seele» – als könnte man vom ganzen Menschen in seiner leibhaften Existenz und seinen geschichtlichen Bezügen absehen.

Wir sind skeptisch geworden gegenüber der Seele: Natürlich wollen wir keine Platoniker sein, als sei der Leib nichts als ein «Gefängnis der Seele». Wir sind leibbewusst und weltzugewandt. Aus der Seele ist die «Psyche» geworden, die man analysieren und behandeln kann wie auch den Leib.

Doch gleichzeitig ist eine Gegenbewegung im Gang. In einer technisierten, anonym gewordenen Welt der «seelenlosen» Abläufe und Sachzwänge sehnen sich Menschen danach, «zu sich» zu kommen. In den bürokratischen Strukturen, die den Verdacht auf politische und ökonomische Eigeninteressen wecken, suchen wir nach einer «Seele für Europa». Eine Recherche im Verzeichnis der lieferbaren Bücher ergibt für das Stichwort «Seele» auf Anhieb etwa 12 000 Funde, darunter Titel wie «Was der Seele gut tut», «Atemholen für die Seele», «Gib deiner Seele ein Zuhause» usw.

Doch auch diese Rückzugsorte beruhigen nicht mehr. Der Leib ist ja längst zum Gefängnis geworden – nicht mehr für die Seele, sondern für unsere gesamte endliche, sterbliche Existenz. Neue Zweifel stellen sich ein: Alle geistigen Phänomene sind, wie wir wissen, sozial und kulturell bedingt. Doch vielleicht sind wir ja geradezu naturhaft determiniert? Vielleicht sind  unsere Gedanken und Gefühle nur Nebenwirkungen der neurologischen Funktionen unserer Gehirnzellen? Ein Medizinprofessor und Gehirnforscher der Universität Freiburg i. Ü. erzählte mir, er habe vermutlich den Sitz der religiösen Gefühle in einem bestimmten Komplex von Gehirnzellen entdeckt – und wollte meine Meinung dazu wissen.

Der Zweifel nagt an uns, Christen nicht ausgenommen. Die Anfragen als solche kränken unser Selbstbewusstsein, das doch weiterhin von unserer einzigartigen Individualität ausgehen möchte. In diese Situation hinein könnte die christliche Botschaft von der unsterblichen Seele und von der unmittelbaren Erschaffung jeder menschlichen Seele durch Gott neue Aktualität erlangen. Die christliche Lehre hält eine einzigartige Denkform bereit: Die Seele in ihrem göttlichen Ursprung ist unbedingt an den Leib gebunden und ohne ihn nicht heil. Das unterscheidet sie vom geistigen Wesen der Engel. Doch sie ist nicht durch den Leib bedingt, sondern dessen «Form». Diese Ausgabe der Kirchenzeitung möchte dazu beitragen, diese hoffnungsvolle Sicht neu zu erschliessen.

Barbara Hallensleben*

 

* Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin der Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg und Direktorin des Zentrums für das Studium der Ostkirchen.