Religiöse Mystik an ungewohntem Ort

Der Raum für musikalische Verkündigung ist weit. Anmerkungen zu drei Opern von Francis Poulenc, Giacomo Puccini und Richard Wagner.

Den Rittern der Tafelrunde erscheint an Pfingsten in einer Vision der Heilige Gral, dargestellt als ein verschleiertes Ziborium, gehalten von zwei Engeln. Miniatur aus «Lancelot en prose» von Évard d’Espingues. Um 1470. Bibliothèque nationale de France 112. (Bild: Wikipedia)

 

Gemeinsamer Nenner der drei hier behandelten Opern ist die Verortung ihrer Libretti1 im Leben einer religiösen Gemeinschaft, in zwei Fällen in einem katholischen Frauenorden, im dritten in einer mystisch-mythischen Männergemeinschaft. Ebenfalls gemeinsam ist, dass es in allen Libretti um das Eindringen von Ausseneinflüssen in den Herzensraum dieser Gemeinschaften geht, die sie bedrängen oder gar fast zerstören. So gesehen ist effektiv die Grundfrage gestellt, ob es Spiritualität und Mystik gelingt, die Werte einer solchen Gemeinschaft gegen – politische im einen Fall, moralische in den beiden anderen Fällen – Gegenkräfte zu bewahren und notfalls in eine anders gelagerte Zukunft zu transformieren. So unterschiedlich die Komponisten und Verfasser der Libretti auch waren, sei gleich auch eingestanden, dass es keiner ohne den Aspekt des Wunders schafft, den aufgebauten Konflikt zu lösen. Die ungeheure Vielfalt einer Klangwelt, die sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis tief in die Mitte des 20. Jahrhunderts erstreckt, macht Lust auf mehr: mehr Hineinhören, besser verstehen, um besser zuordnen zu können.

«Dialogues des Carmélites»2

Francis Poulenc (1899–1963), als gläubiger Katholik ein ganzes Leben an seiner Homosexualität leidend, hat uns nebst kleineren und kirchenmusikalischen Werken diese sperrige Oper hinterlassen, die aufzuführen sich nur wenige Intendantinnen und Intendanten wagen. Das Libretto schrieb er auf Grundlage einer Novelle von Gertrud von le Fort3 und des gleichnamigen Theaterstücks von Georges Bernanos selber. Hintergrund ist die historisch belegte Hinrichtung der (1906 von Pius X. seliggesprochenen) 16 Karmelitinnen von Compiègne, die im Jahr 1794 exekutiert wurden, weil sie sich weigerten, ihre Gelübde zu brechen. Eindrücklich ist deshalb vor allem das Finale der Oper, in dem dumpfe Schläge aus dem Orchestergraben die ständig neu fallende Guillotine abbilden, ein für manche Zuhörende kaum zu ertragender Klangteppich. Die theologisch und spirituell entscheidenden Fragen gehen natürlich voran, und sie sind es, die der Oper den Namen gegeben haben. Die Gespräche in der Ordensgemeinschaft, warum es Wert hat und Sinn macht, die Gelübde zu halten und in den Opfertod zu gehen, dies sich kristallisierend am Schicksal der aus dem Adel stammenden Schwester Blanche, exakter «Blanche von der Todesangst Christi», dominieren alle drei Akte der gut zweieinhalbstündigen Oper. Trotz des späten Datums der Uraufführung bleibt das Werk tonal und bewahrt sich eine eigentümliche und spezifisch mystische Tonsprache. Dass die Rollen der Opfer ausschliesslich mit Frauenstimmen besetzt sind, ist ein starker Kontrast zum dritten hier behandelten Werk. Das zentrale Thema des christlichen Verständnisses von Martyrium lädt zu einer neuen Diskussion ein, die Rolle von Staat und Kirche in der Zeit der Französischen Revolution ebenso.

«Suor Angelica»4

Anders als bei Poulenc ist dieses gut einstündige Werk nur eine (und zudem eine wenig beachtete) der vielen Opern des Meisters aus Lucca (I), Giacomo Puccini (1858–1924). Puccini fasste «Suor Angelica» mit den beiden Kurzopern «Il Tabarro» und «Gianni Schicchi» zum langen Theaterabend «Il Trittico» (Das Tryptichon) zusammen. Aufgrund der Länge werden die drei Opern nur selten gemeinsam aufgeführt. «Suor Angelica» als Mauerblümchen unter ihnen wird nur gelegentlich inszeniert. Das Libretto von Giovacchino Forzano spielt im 17. Jahrhundert in einem Frauenkloster in der Toscana und erzählt die überaus traurige Geschichte der Nonne Angelica, die wegen eines unehelichen Kindes von ihrer Adelsfamilie ins Kloster geschickt, dort von ihrer Tante zum Erbverzicht gezwungen und dabei grob über den Tod des Kindes informiert wird. Sie wählt den Tod durch giftige Kräuter und sieht im Finale als Vision die Muttergottes mit ihrem Kind ihr entgegenkommen. Die Handlung ist nur schwer erträglich, doch wird sie von Puccinis Musik – und auch als reine Frauenoper5 – mehr als geadelt. Die unschuldigen Gespräche der Schwestern und Novizinnen über das, was sich im Klosterleben gehört und was nicht, sowie die Gewissensqual der unseligen Nonne finden in Puccinis Musik «der kleinen und unbedeutenden Leute» (nach Mimi in «La Bohème» und der Hauptperson in «Madama Butterfly») einen tiefst melodisch-sentimentalen Ausdruck. Das Werk sollte auf keinen Fall unterschätzt werden, gerade neuere Inszenierungsansätze zeigen: Macht und Autorität, auch in Frauenwelten und ihren speziellen Ausformungen, fordern immer wieder ihre Opfer.

«Parsifal»6

Richard Wagner nannte sein letztes Werk, das ausschliesslich für Aufführungen im Festspielhaus gedacht war, nicht etwa «Oper», sondern «Bühnenweihfestspiel». Wie bei allen Werken schrieb er auch für dieses (musikalisch mehr als vier Stunden füllende) das Libretto selber, diesmal aufgrund der mittelalterlichen Vorlage von Wolfram von Eschenbach7. «Parsifal» ist inhaltlich und stimmlich das Gegenstück zu den «Dialogues». Einer mönchsähnlichen Männergemeinschaft steht eine einzige tragende Frauenstimme, die Gestalt von Kundry, die zu ewigem Leben verdammte Sünderin, die den Heiland am Kreuz verlachte, als Mischung von Hexe, Heilerin und Verführerin entgegen. Thema von «Parsifal» (nebst dem des jugendlichen Titelhelden, der zur Erkenntnis allein «per aspera ad astra» gelangt) ist das Scheitern eines Männerordens am Versprechen der Keuschheit. Das Heiligste mit unbefleckten Händen zu berühren, der Schmerz und das Leid darüber, dass dies kaum möglich ist, wird an der Gestalt des schuldig gewordenen Amfortas mit seinen Klage- und Zornausbrüchen dargestellt. Die ganze Gemeinschaft wandert ihm nach durch die heilige Woche. Der Karfreitagszauber besteht einzig aus dem Erwachen der Natur, und Erlösung wird nur durch den nach langem Irrweg nun wissend gewordenen «unschuldigen Tor» möglich. Diese Oper, von Nietzsche zutiefst angefeindet, ist ein in ihrer melodiösen Schlüssigkeit und in ihrem magischen Klangzauber und in der offenen Frage, wie es denn nun mit der Gemeinschaft weitergeht, erschreckend realistisches Abbild der katholischen Kirche in ihrer momentanen Diskussion um Missbrauch und Sexualität.

Heinz Angehrn

 

1 Unter einem Libretto versteht man den Text von musikdramatischen Werken.

2 Uraufführung: 26. Januar 1957 an der Scala in Mailand.

3 Von le Fort, Getrud, Die letzte am Schafott (erschienen 1931).

4 Uraufführung: 14. Dezember 1918 an der Metropolitan Opera in New York.

5 Reine Frauenopern finden sich ganz selten im Opernrepertoire. Es sind noch «Aus einem Totenhaus» von Leoš Janácek und «Billy Budd» von Benjamin Britten als «Männeropern» zu nennen.

6 Uraufführung: 26. Juli 1882 am Bühnenfestspielhaus in Bayreuth.

7 Von Eschenbach, Wolfram, Parzifal (entstanden zwischen 1200 und 1210).

 

Empfohlene Aufnahmen

  • «Dialogues des Carmélites»: Denise Duval, Régine Crespin, Rita Gorr u. a. Choeurs et Orchestre du Théâtre National de l’Opéra de Paris. Pierre Dervaux. EMI Classics 1958.
  • «Suor Angelica»: Victoria de los Angeles, Fedora Barbieri u. a. Orchestra del Teatro dell’Opera di Roma. Tullio Serafin. Naxos 1957.
  • «Parsifal»: George London, Hans Hotter, Jess Thomas, Irene Dalis u. a. Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele. Hans Knappertsbusch. Philips 1962.

 


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.