«Musik ist identitätsstiftend»

Kirchenmusik ist mehr als eine nette Untermalung des Gottesdienstes. Durch das Singen von Kirchenliedern wird der eigene Glaube bekannt und verkündigt. Diese können aber auch missbraucht werden.

Dr. Mario Pinggera (Jg. 1969) studierte zunächst Kirchenmusik in Rottenburg und Frankfurt, danach Theologie in Freiburg i. Ue. Er ist seit 2006 Pfarrer in Richterswil ZH und seit 2009 Dozent für Kirchenmusik an der Theologischen Hochschule Chur. (Bild: rs)

 

SKZ: Inwiefern verkündigt die Kirchenmusik?
Mario Pinggera: Verkündigung bedeutet, die Frohe Botschaft den Menschen kundzutun. In der Kirchenmusik ist dies mit jedem geistlichen Text gegeben, der in irgendeiner Form vertont ist.

Eigentlich ist die Frage nach der Verkündigung durch die Kirchenmusik eher eine protestantische Fragestellung. Seit wann ist sie in der katholischen Kirche ein Thema?
Eigentlich seit Beginn. Gregorianik zum Beispiel ist ureigenste Verkündigung. Hier spielen alle Sinne mit: der Raumklang in einer romanischen Kirche und die Einstimmigkeit, die oft keine ist, da ein solcher Raum durch den Hall Mehrstimmigkeit erzeugt. Die Menschen müssen den lateinischen Text nicht unbedingt verstehen, nur zuhören; hier trifft sich Mystik und Sehnsucht. Ich erlebe dies bei uns in der Pfarrei. Wir singen öfters ein Choralamt und es ist auffallend, wie während und nach dem Introitus plötzlich eine Stille eintritt, selbst wenn viele Kinder und Kleinkinder anwesend sind. Die Gläubigen – jung und alt – hören diese Gesänge erstaunlich gerne.

Es soll ein Nachfolgemedium für das «Katholische Gesangbuch» erstellt werden. Wie müsste dieses gestaltet sein, damit Kirchenmusik ein Ort der Verkündigung ist?
Wenn wir auf die Genese des KG schauen: Am Anfang stand das «Kirchenlied»1. Dieses erschien im Nachklang an die liturgische Bewegung, die festgestellt hatte, dass es Gesänge in der Muttersprache braucht. Es wurden Lieder aus der evangelischen Tradition übernommen wie z. B. «Lobe den Herren», aber auch Neudichtungen geschaffen. So schrieb Maria Luise Thurmair Liedtexte, die, wenn auch nur sehr dezent, die Bedrängnis der NS-Zeit thematisieren, z. B. «Der Geist des Herrn erfüllt das All», aber auch Georg Thurmair, z. B. mit «Der Satan löscht die Lichter aus und lässt die Welt erblinden». Diese Lieder konnte man damals irgendwie an der Zensur vorbeischmuggeln. Wir haben viele Lieder aus dem «Kirchenlied». Ich sehe hier eine grosse Kontinuität. Für die Gestaltung eines neuen Kirchengesangbuchs müssen wir in erster Linie auf Qualität bedacht sein. Wenn ich im Supermarkt eine Frucht im Sortiment habe, die faul ist oder nicht schmeckt, dann lasse ich sie weg. Das wird die grosse Kunst sein und hier besteht Verbesserungsbedarf. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Einbezug der bereits gemachten Erfahrungen. Es könnte z. B. bei den Gläubigen nachgefragt werden, welche Lieder tragen. Dann hätte man schon einen Fundus an Liedern.

Sie haben den Nationalsozialismus erwähnt. In Ihrer Dissertation2 untersuchen Sie die Vereinnahmung der Kirchenmusik durch diese Ideologie, besonders in Südtirol.
Diese Gefahr bestand nicht nur in Südtirol. Es gab Werke, die man eigens komponierte, um die Ideen des NS-Regimes zu verbreiten. So wurden z. B. in Deutschland von evangelischer Seite Kirchenlieder einfach umgeschrieben, die Judaismen wie «Zion» oder «Abraham» enthielten. In Tirol verfasste der – übrigens kirchenferne – Komponist Josef Eduard Ploner3 ein Lied, das auf den ersten Blick wie eine wunderbare Litanei aussieht. Der Text ist ein Zerrbild der biblischen Geschichte vom Durchzug durch das Rote Meer: «Und wenn in dieser Wasserrinne das ganze Judenvolk darinnen, o Herr, dann mach die Klappe zu, und alle Völker haben Ruh!» Und das alles, wie gesagt, im Stil einer Litanei.

Gab es auch positive Einflüsse der Kirchenmusik?
Ja. Hier müssen die Kirchensinger in Südtirol erwähnt werden, deren Tradition ins 18. Jahrhundert zurückgeht. Sie pflegten die geistliche Volksmusik, die es in dieser Form nur im alpenländischen Raum gibt. Sie sangen bei Gottesdiensten, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen und Prozessionen. Sie haben auch während der Besetzung Südtirols durch die Nationalsozialisten weitergesungen und so indirekt die eigene Vereinnahmung durch diese verhindert. Als kleine Gruppen, die vorwiegend in den Dörfern und abgelegenen Bauernhöfen aktiv waren, entgingen sie der Zensur. Daneben waren auch die lateinischen Gesänge der katholischen Kirche unverdächtig.

Bei der Seligsprechung von Otto Neururer, der von den Nationalsozialisten ermordet worden war, wurde ausgerechnet ein Marsch des NS-Komponisten Sepp Tanzer gespielt.
Neururer4 ist in Buchenwald grauenvoll ums Leben gekommen. Dass bei seiner Seligsprechung 1996 die Stadtmusikkapelle Wilten-Innsbruck, die übrigens vom ehemaligen Gau-Musikinspizienten Sepp Tanzer5 selbst geleitet worden war, auch noch einen Marsch von ihm spielte, ist eine Stillosigkeit, nein, eine Verhöhnung ersten Grades dieses Glaubenszeugen. Als Papst Johannes Paul II. davon erfuhr, hat er persönlich interveniert.

Bei Ihren Recherchen über die in den Jahren 1943 bis 19456 in Südtirol aufgeführten Musikstücke stiessen Sie auf Schweigen oder Ablehnung.
Es war und ist den Musikvereinen peinlich. Man schämt sich bis zum heutigen Tag, hat aber gleichzeitig auch Angst vor einem Identitätsverlust. Musik ist identitätsstiftend. Und es waren ja durchaus Kompositionen von Qualität, die auch heute noch gespielt werden. Ich habe damit kein Problem, doch muss klar gesagt werden, zu welchem Zweck die Musik komponiert wurde. Hier darf man nichts verheimlichen oder beschönigen.

Wo sehen Sie ein Entwicklungspotenzial für die Kirchenmusik als Ort der Verkündigung?
In erster Linie in der Qualität der Gesänge, im Einbezug der Gemeinde durch Wechselgesänge und in einer noch viel fundierteren Ausbildung in der Kirchenmusik, was die Begleitung der Gesänge betrifft. Das beste Lied bringt nichts, wenn die Begleitung nicht zuträglich ist. Und natürlich auch in einer verbesserten theologischen Ausbildung. Ich erlebe das jedes Jahr im Pastoralkurs: Wenn es einen Konfliktherd gibt, dann liegt er meist in der mangelnden Zusammenarbeit zwischen Kirchenmusik und Seelsorge. Hier besteht Nachholbedarf.

Nochmals zurück zum Nachfolgemedium des KG. Worauf muss geachtet werden, damit die Kirchenmusik wirklich Verkündigung ist?
Was man schon in den 90er-Jahren hätte wissen müssen. Man ändert z. B. an einer Schubertmesse nicht den Text. Ich schätze Georg Thurmair, doch wenn man anstatt «Wohin soll ich mich wenden?» einfach «Zu dir will ich mich wenden» singt, gibt man sich die Antwort gleich selbst. Da wäre es besser, das Lied ganz wegzulassen. Hier braucht es mehr Sensibilität. Diese Sensibilität wurde bei der Zusammenstellung des «Gotteslobes» bewiesen. Dieses enthält eine Fülle von Gesängen aus dem 19. Jahrhundert, die in den 60er-Jahren als «Schmachtfetzen» aussortiert wurden, z. B. «Segne du, Maria». Auch solche Lieder gehören in ein Kirchengesangbuch. Wir haben verschiedene Formen von Frömmigkeit und die müssen alle Platz haben. Auch wurden im «Gotteslob» in Österreich zum ersten Mal fünf Landessprachen berücksichtigt.7 Oder Lieder, die sehr populär sind, sind in den verschiedenen gesungenen Varianten abgedruckt. Die Unterschiede in den diözesanen Versionen sind meist minimal, doch wichtig. Hier hat man beim «Gotteslob» wirklich äusserst sensibel reagiert. Solche Erfahrungen muss man sich zunutze machen. Warum in der Schweiz nicht Mundartlieder übernehmen? Und zwar in verschiedenen Dialekten. Auch wenn es nur zwei oder drei Lieder sind. Hier wünsche ich mir von der zuständigen Kommission den nötigen Weitblick.

Interview: Rosmarie Schärer

 

1 Das «Kirchenlied» war ein römisch-katholisches Gesangbuch, das 140 ältere und neue Kirchenlieder enthielt. Es trug massgeblich zur Verbreitung eines einheitlichen Liedgutes im deutschsprachigen Raum bei.

2 Pinggera, Mario, Musik und Kirche unter den Einfluss der nationalsozialistischen Diktatur in Südtirol. Musik und Volksfrömmigkeit im Spannungsfeld einer Diktatur, Zürich 2019.

3 Josef Eduard Ploner (1894–1955) war ein österreichischer Lehrer, Landesbeamter, Komponist, Ensembleleiter, Volksliedforscher und Organist.

4 Otto Neururer (1882–1940) war ein katholischer Pfarrer. Er wurde wegen verbotener Ausübung seines Priesteramtes im KZ Buchenwald ermordet.

5 Sepp Tanzer (1907–1983) war Finanzbeamter, Blasmusikkomponist und Kapellmeister. Während der NS-Zeit war er u. a. Leiter der Fachschaft Volksmusik beim Gau Tirol-Vorarlberg, Leiter der Gaumusikkapelle der SA, Gaumusikinspizient, Gaumusikleiter und Musikreferent des Gauleiters Franz Hofer.

6 Die Nationalsozialsten hielten das Südtirol von September 1943 bis Mai 1945 besetzt.

7 Z. B. GL 803 «Stille Nacht»: Ungarisch, Deutsch, Burgenländisch-Kroatisch, Slowenisch, Romani.

 

BONUS

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