Popularmusik als Verkündigung

Popularmusik will begegnen, will die Distanz zwischen Musik und Hörendem resp. Singendem überwinden, und eröffnet so die Möglichkeit, im gemeinsamen Hören und Singen den Glauben zu teilen.

Kantonaler Singtag mit Andreas Korsch. (Bild: Dirk Weinert)

 

Popularmusik ist in weiten Teilen des kirchlichen Lebens in der Schweiz integraler Bestandteil der Verkündigung geworden. Dabei bestehen zwischen den beiden landeskirchlichen Landschaften erhebliche Unterschiede. Die Etablierung der Popularmusik in der reformierten Kirche ist insgesamt weiter fortgeschritten als in der katholischen. Die Fachkommission Popularmusik1 versteht unter Popularmusik «jene Musiksparten, die im Bereich von Spiritual/Gospel, Jazz und Rock/Pop angesiedelt oder davon beeinflusst sind». Die so definierte Musik ist kein neues Phänomen im weiten Gebiet der Kirchenmusik, sondern hat darin seit ihren Anfängen in den Spirituals der schwarzen Sklaven in den USA seit dem 17. Jahrhundert immer einen wichtigen Platz eingenommen. Sie eignet sich bis heute hervorragend dazu, zentrale Funktionen der Kirchenmusik zu erfüllen: feiern, teilen, teilhaben, mitgestalten.

Musik will begegnen

Seit jeher besteht zwischen dem Ich oder dem Wir, das in popularmusikalischen Liedern besungen wird, und dem Ich oder Wir der Singenden selbst höchstens eine sehr durchlässige Grenze. Popularmusik versucht grundsätzlich, eine blosse Betrachtung aus sicherer historischer oder kultureller Distanz zu vermeiden. Sie spricht mit persönlicher, in gewisser Weise alltäglicher Stimme und lebt explizit von der individualisierenden Ausgestaltung der Musik. Der Singer-Songwriter singt von sich selbst und lädt die Zuhörenden gerade dadurch dazu ein, sich in seinen Worten wiederzufinden. Popularmusik versteht sich immer als partizipatives Geschehen. Dieses grundsätzliche soziale Setting eignet sich hervorragend zum gemeinschaftlichen Singen im Gottesdienst. Werden Lieder in diesem Sinn angeleitet und vielfach persönlich gemeint, teilen wir darin unseren Glauben und unsere Zweifel, atmen und beten wir zusammen. Diesem grundsätzlichen Verständnis folgt auch die klangliche Ästhetik der Popularmusik: Sie wird so produziert und oder live verstärkt, dass sie nahekommt, «in your face», uns körperlich erreicht. Das hat primär nichts mit Lautstärke zu tun, sondern mit dem Bestreben, bei den Zuhörenden oder Mitsingenden persönlich anzukommen. Freilich, wenn wir die Bassdrum nicht nur hören, sondern auch im Bauch spüren, wenn die Stimme der Solistin so klingt, als würde sie direkt vor uns stehen, kann uns das auch allzu nahe kommen und Abwehrreflexe auslösen. Mit diesem Potenzial gilt es sensibel umzugehen.

Damit ist eine der vielen Anforderungen an die Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker genannt, die im Bereich Popularmusik tätig sind: die Gemeinde in den gemeinsamen, emotionalen Gesang einzuladen, ohne sie dabei zu überfahren. Selbstverständlich gibt es in diesem Bereich so grosse individuelle «Schmerzgrenzen», dass allein diese Balance schwer zu finden ist. Die Erfahrung zeigt aber, dass dies kaum die wichtigste Frage ist, sondern dass sie in den Hintergrund tritt und beantwortbar wird, wenn andere, wichtigere Voraussetzungen gegeben sind: Zunächst müssen die Musikschaffenden ihre Verantwortung in der Singleitung wahrnehmen wollen. Sie sollen sichtbar sein, sich zeigen als Anleitende und Einladende zum Anfassen, mit der Gemeinde unterwegs sein mit dem grundsätzlichen Anliegen, dieser zum gemeinschaftlichen Singen zu verhelfen. Dazu stellen sie nicht nur ihre professionellen Fähigkeiten, sondern auch ihre sozialen und geistlichen Erfahrungen zur Verfügung. Sie sind gefragt in der Leitung von Chören, Ansinggruppen und Bands. Sie beteiligen sich aktiv an der Vorbereitung und Gestaltung des Gottesdienstes und arbeiten entsprechend mit allen anderen Mitgestaltenden zusammen. Gerade im verbesserten Dialog zwischen Pfarrpersonen und Musikschaffenden in der Gottesdienstvorbereitung liegt für die Zukunft ein grosses Potenzial.

Gute Singleitung setzt weiter einen souveränen Umgang mit dem Repertoire voraus – hier ist verlässliches Handwerk im Bereich Groove-Verständnis, Akkordspiel und improvisatorische Liedbegleitung gefragt. Nicht zuletzt benötigen wir einen kompetenten und sensiblen Umgang mit elektronischen Instrumenten, Mikrofonen und Verstärkeranlagen, damit diese zu einem guten Gemeinschaftserlebnis beitragen.

Ernsthafte Auseinandersetzung

Diese hohen Anforderungen verlangen nach spezifischer Ausbildung. Diverse kirchenmusikalische Ausbildungsstätten in der Deutschschweiz bieten entsprechende Studiengänge und Kursmodule an.2 Es ist ein grosser Irrtum zu glauben, dass Popularmusik, die im Idealfall oft so locker-vom-Hocker und wie aus dem Ärmel geschüttelt daherkommt, einfach zu spielen ist. Groove ist das A und O guter Popularmusik, gewissermassen ihr afrikanisches Element: ein körperliches Puls- und Rhythmusverständnis, das sich als Bewegungsenergie auf alle Beteiligten überträgt. Allein dieses zu entdecken, zu entwickeln und für die eigene Musik fruchtbar zu machen, ist eine grosse Aufgabe. Dazu sollte eine selbstverständliche Sicherheit im Hören und Umsetzen von harmonischen Stufen und eine Vertrautheit mit wichtigen Stilistiken innerhalb der Popularmusik kommen. Dies alles erfordert gründliche Ausbildung, die schwerlich als Nebengleis der klassischen Kirchenmusik-Ausbildungen geleistet werden kann.

Im Sinn der Vollständigkeit und Anerkennung anderer «Anfahrtswege» ist es mir wichtig, hier festzuhalten, dass diese Ausbildung – gerade in der Popularmusik – auch autodidaktisch geschehen kann. Die Popwelt hat immer wieder grandiose Musikerinnen und Musiker ohne jede formale Ausbildung hervorgebracht. Entsprechend wichtig sind Reglemente, die eine reguläre Anstellung von «Selfmade»-Popularmusikerinnen und -musikern unter fairen Bedingungen ermöglichen.

Vertrautheit mit den Liedern ermöglichen

Eine entscheidende Rolle für den «Erfolg» von Popularmusik in den Gottesdiensten spielt die Etablierung eines gehaltvollen, angemessenen, vertrauten Repertoires an Gemeindeliedern. Wie bereits erwähnt, sollten Kirchenmusikschaffende diesen Prozess aktiv mitgestalten und ihrer Gemeinde beispielsweise im Umgang mit dem Liederbuch «Rise up plus» vorangehen, indem sie es kennenlernen, gegebenenfalls die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel wie CD-Aufnahmen und Klavier- und Chorsätze verwenden und Lieder in den Gottesdienst einbringen, die aus ihrer Sicht theologisch, musikalisch und praktisch gut zu ihrer Gemeinde passen. Um das Ziel der Vertrautheit zu erreichen, sollte dieses Repertoire nicht allzu gross sein. Eine Grössenordnung von 30 bis 50 Liedern hat sich als sinnvoll erwiesen. Diese Sammlung an Liedern wird sich im Lauf der Zeit entwickeln, d. h. nicht häufig gesungene Lieder werden nach und nach neuen Liedern Platz machen. Es gehört zu den wichtigen Aufgaben der Musikerinnen und Musiker, diese neuen Lieder sorgfältig und einladend einzuführen. Danach sollten sie bewusst regelmässig wiederholt werden, damit sie vertraut werden. Ob diese Gemeindelieder dann aus einem Liederbuch, mit einem Liedblatt oder ab der Leinwand, sitzend oder stehend gesungen werden, spielt eine untergeordnete Rolle.

Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass die Popularmusik selbstverständlich auch im engeren Sinn zum liturgischen Element der Verkündigung beitragen kann. Ihr Spektrum reicht weit über das besonders beliebte und verbreitete Genre der Lobpreismusik hinaus, und sie hat beispielsweise mit etablierten Liedern aus «Rise up plus» wie «Da berühren sich Himmel und Erde», «So ist Versöhnung», «Ein Licht in dir geborgen», «Über allem ist die Liebe», «Das Weizenkorn fällt», «Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht» oder «Vorbei sind die Tränen» auch in diesem Bereich einiges zu bieten.

Andreas Hausammann

 

1 Fachkommission Popularmusik der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz.

2 Z. B. die Kirchenmusikschule Aargau, die Zürcher Hochschule der Künste, und allen voran die ökumenischen Kirchenmusikschulen St. Gallen, wo in zweijährigen, berufsbegleitenden Studiengängen Popularmusik auf Ausbildungsniveau C und, darauf aufbauend, B belegt werden kann.

 


Andreas Hausammann

Andreas Hausammann (Jg.1970) ist Jazz- und Gospelpianist, Beauftragter für populäre Musik der Evang.-ref. Kirche des Kantons St. Gallen, Schulleiter der Evangelischen Kirchenmusikschule St. Gallen und Präsident der Fachkommission Popularmusik der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der evang.-ref. Kirchen der deutschsprachigen Schweiz.
(Bild: Natasha Hausammann)