Mehr als eine symbolische Geste

Mit seinem Besuch anerkennt und würdigt Papst Franziskus den ÖRK, seine Zielsetzung und Arbeit. Die Beziehung zwischen den ÖRK-Kirchen und der römisch-katholischen Kirche wird nachher nicht mehr dieselbe sein.

Aus Anlass seines 70-jährigen Bestehens besucht Papst Franziskus am 21. Juni den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf. Im Unterschied zu den früheren beiden Besuchen von Päpsten im ÖRK kommt Papst Franziskus extra dafür in die Schweiz. Der ÖRK und seine Zielsetzung, die Kirchen zur sichtbaren Einheit in dem einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft aufzurufen, erfahren somit eine besondere Anerkennung seitens der römisch-katholischen Kirche. Den Grund dafür sieht der ÖRK-Generalsekretär, Pfarrer Dr. Olav Fykse Tveit, darin, dass die ökumenische Vision des Papstes eine grosse Übereinstimmung mit den Bestrebungen des ÖRK zeige. Papst Franziskus würdigt damit die Arbeit des ÖRK, der heute in den Kirchen und medial nicht mehr gleichermassen stark präsent ist wie in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens. Ein kurzer Blick in die Geschichte erhellt die Hintergründe dieser Entwicklung, macht aber auch die Konvergenz des ÖRK mit Papst Franziskus deutlich.

Eine Vielzahl von Mitgliedskirchen

Als der ÖRK 1948 in Amsterdam gegründet wurde, zählte er 147 Mitgliedskirchen. Heute ist diese Zahl auf 348 in 120 Ländern gestiegen, die rund 560 Millionen Christen repräsentieren. Während der Rat in den ersten Jahren vorwiegend protestantisch und westlich geprägt war, haben sich sein Profil und seine Identität in den 1960er- Jahren mit dem Beitritt sowohl zahlreicher orthodoxer Kirchen als auch soeben erst unabhängig gewordener Kirchen aus ehemaligen Kolonialgebieten verändert. Der ÖRK ist heute weltweit die vielfältigste Gemeinschaft von Kirchen.
Mit der ökumenischen Öffnung der römisch-katholischen Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil wurden die Beziehungen zwischen dem ÖRK und ihr auf einen Schlag auf eine neue Basis gestellt. Die lebendige weltweite Ökumene stand vor ganz neuen Horizonten. Bereits 1966 wurde eine gemeinsame Arbeitsgruppe gebildet und im Laufe der Jahre die Zusammenarbeit verstärkt (darunter am bekanntesten die Gebetswoche für die Einheit der Christen im Januar). Die ökumenische Öffnung der römisch-katholischen Kirche und ihre neue Beziehung zum ÖRK bedeuteten für diesen aber nicht nur einen unerwarteten Zugewinn. Neben Genf gab es in Rom nunmehr eine zweite Trägerin der ökumenischen Bewegung. Eine Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche beim ÖRK wurde aufgrund der ungleichen Grössenverhältnisse und des katholischen Selbstverständnisses abgelehnt. Letzteres prägte fortan stark den Dialog darüber, wie die Einheit der Kirche und konkrete Modelle dafür theologisch zu denken waren. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich daraus eine gewisse bis heute andauernde ökumenische Patt- oder Konkurrenzsituation ergab. Davon war der ÖRK in seinen Anfängen weit entfernt.

Gemeinsam für Versöhnung und Frieden

Die Gründungsmitglieder des ÖRK standen unter dem Eindruck von zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten. Christliche Völker hatten sich bis aufs Blut bekämpft. Die Kirchen empfanden Schuld, sich gegeneinander abgeschlossen und nicht mehr für den Frieden getan zu haben. Fortan wollten sie sich mit aller Kraft für Versöhnung untereinander und zwischen den Nationen und für den Weltfrieden einsetzen. «Wir haben den festen Willen, beieinander zu bleiben», bekannte eine Rednerin der Gründungsversammlung von 1948. Ihr Aufruf zu Beharrlichkeit in der Ökumene wurde gehört. Dabei waren die Kirchen zutiefst überzeugt, dass die absolut gebotene Notwendigkeit des gemeinsamen Zeugnisses und Handelns sie einander automatisch näherbringen und auch theologische Lehrunterschiede überwinden lassen würde. Mit der Devise, dass Handeln eint, gewann die Bewegung für praktisches Christentum (soziale Dienste, internationale Angelegenheiten, Nothilfe) – eine der Vorläuferorganisationen* des ÖRK – im ÖRK die Oberhand, bis heute. Weil im Laufe der Zeit jedoch viele der neu entstandenen Nichtregierungsorganisationen ihre Tätigkeit in denselben Arbeitsbereichen aufnahmen, verlor der ÖRK auch zunehmend an Bedeutung und verkleinerte seinen Stab in Genf. Davon nicht gleichermassen betroffen war die Arbeit der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung, welche primär die Einheit der Kirchen durch theologische Annäherung sucht und in der die römisch-katholische Kirche heute volles Mitglied ist.

Die Arbeitsbereiche des ÖRK

Nach dem Krieg ermutigte der ÖRK die Kirchen zum Ausbau ihrer Entwicklungshilfe und führte selbst Hilfsprogramme unter Flüchtlingen und mittellosen Bevölkerungsgruppen durch. Während des Kalten Krieges diente der ÖRK als Forum für den Dialog zwischen Ost und West. 1961 kam es zum Zusammenschluss zwischen dem Internationalen Missionsrat und dem ÖRK, der dem Rat einen beträchtlichen Aufgabenzuwachs brachte.
Das umstrittene Programm zur Bekämpfung des Rassismus trug zur Beendigung der Apartheid im südlichen Afrika bei. Im Jahr 1983 wurde der konziliare Prozess der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung initiiert. Die Dekade zur Überwindung der Gewalt wurde 1998 in Harare begonnen. Während der letzten Vollversammlung des ÖRK im südkoreanischen Busan 2013 folgte schliesslich der Aufruf an alle Kirchen, Christen und Menschen guten Willens, sich auf einen Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens zu begeben. Dieser bestimmt die Ausrichtung der gegenwärtigen Arbeit des ÖRK. Alle ÖRK-Programme wollen die Mitgliedskirchen und ökumenischen Partner unterstützen und Gerechtigkeit und Frieden in unserer Welt als Ausdruck des gemeinsamen Glaubens an den dreieinigen Gott fördern. Derzeit konzentriert der ÖRK seine Arbeit in drei Programmbereichen:

  1. Einheit, Mission und ökumenische Beziehungen,
  2. öffentliches Zeugnis und Diakonie sowie
  3. ökumenische Ausbildung (vor allem am Ökumenischen Institut Bossey).

Der ÖRK versteht sich primär nicht als Organisation in Genf, die Programmarbeit für die Mitglieds- kirchen macht, sondern als Gemeinschaft von Kirchen, die durch das Büro in Genf und miteinander ihre ökumenische Berufung und ihre gemeinsamen Aufgaben wahrnehmen und einander so zur sichtbaren Einheit aufrufen. Die Rolle des ÖRK dabei ist Convening (Zusammenführen, z. B. für den Einsatz für bedrängte und verfolgte Christen im Nahen Osten oder für den Dialog mit dem Islam), Entwicklung von Partnerschaften, Ausbildung, Kommunikation, Advocacy (Fürsprachearbeit, z. B. für indigene Völker) und Begleitung von Kirchen (z. B. im Südsudan, in der Demokratischen Republik Kongo, Syrien oder Nord-/Südkorea).
Dass neben dem gemeinsamen Zeugnisgeben für Versöhnung und Frieden und dem Engagement für mehr Gerechtigkeit in der Welt durch den ÖRK auch wesentliche Schritte hin zur sichtbaren Einheit der Kirche im Sinne der eucharistischen Gemeinschaft getan würden, war das Ziel des wichtigen Dokuments «Taufe, Eucharistie und Amt» (1982). Dieses formulierte Konvergenzen, die jüngst durch ein weiteres Dokument der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung, «Die Kirche – unterwegs zu einer gemeinsamen Vision», gefestigt wurden.

Bedeutung des Papstbesuchs

Es dürfte deutlich geworden sein, inwieweit sich die Arbeit des ÖRK mit einem Kirchenverständnis von Papst Franziskus deckt, nach dem die Kirche als verkündigende Kirche über sich hinauszugehen hat, um das Licht des Evangeliums in die Welt und zu den «Rändern» zu tragen. Die Ökumene ist deshalb für ihn höchst prioritär. Und vom gemeinsamen Beten und Handeln erwartet er den ökumenischen Fortschritt. Papst Franziskus lebt mit seiner Persönlichkeit bereits Gemeinschaft unter den Kirchen, ohne die ökumenisch-theologische Arbeit für die Einheit zu vernachlässigen. Wenn der Papst zu einer gemeinsamen gottesdienstlichen Feier nach Genf kommen und vor dem rund 150-köpfigen, von der Kenianerin Agnes Abuom geführten Zentralausschuss eine Ansprache halten wird, dann wird dies zweifellos mehr als eine symbolische Geste sein.

Für Tveit bedeutet der Papstbesuch nicht nur einen der Höhepunkte im Jubiläumsjahr, sondern ein «Geschenk» und eine «einzigartige Gelegenheit, die Gemeinschaft zu vertiefen». Die Beziehung zwischen den ÖRK-Kirchen und der römisch-katholischen Kirche lokal und global werde nachher nicht mehr dieselbe sein. Dies kann als Ausdruck der Überzeugung interpretiert werden, dass der Fortschritt in der Ökumene wesentlich vom Willen der Kirchen abhängt, die gefundenen Gemeinsamkeiten im Lehren und Handeln auch in das Leben der Kirchen zu integrieren und einander Dank, Wertschätzung und Respekt entgegenzubringen.

Martin Hirzel

 

*Der ÖRK kennt drei Vorläuferorganisationen: Die Bewegung für praktisches Christentum, die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung und den Internationalen Missionsrat. Im Jahr 1937 beschlossen die Bewegung für praktisches Christentum und die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung den Zusammenschluss, woraus 1948 der ÖRK entstand. Der 1921 gegründete Internationale Missionsrat gliederte sich 1961 dem ÖRK an.


Martin Hirzel

Pfarrer Dr. Martin Hirzel (Jg. 1965) ist Beauftragter für Ökumene und Religionsgemeinschaften beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund und seit 2007 Mitglied des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen.
(Bild: SEK/Gion Pfander)