Lücke in der Forschung füllen

Das Vorhaben ist einmalig: Prof. Dr. Michael Fieger gibt zusammen mit Prof. Dr. Widu-Wolfgang Ehlers und Dr. Andreas Beriger eine deutschsprachige Ausgabe der «Vulgata sacra» des Hieronymus heraus.

Brigitta Schmid Pfändler / Fabio Theus: Warum haben Sie eine deutsche Übersetzung der «Vulgata sacra» vorangetrieben?
Michael Fieger*: Immer weniger Menschen beherrschen die lateinische Sprache gut genug, um Originaltexte lesen zu können. Damit wird der deutschsprachige Zugang zu den antiken Texten zu einem wichtigen Faktor des Verstehens dieser Texte. Die von Hieronymus1 geschaffenen frühen und reichen Bibeltexte nun als dokumentarische Übersetzung zugänglich zu machen, war ein initialer Antrieb. Zudem füllt die «Vulgata deutsch» eine Lücke in der Forschung und Exegese. Denn bis heute hatte man im deutschen Sprachraum zwar Zugriff auf gut edierte masoretische Texte sowie auf die «Septuaginta deutsch», nicht aber auf die frühen lateinischen Texte. Ich bin überzeugt, dass diese Texte in der Forschung mit Gewinn eingesetzt und ihren Platz in der Auslegung finden werden. Muttersprachliche Übertragungen sind ein wissenschaftliches Bedürfnis, dem auch andernorts Rechnung getragen wird. So hat fast zeitgleich mit dem Projekt «Vulgata deutsch» auch in Rumänien unter der Leitung von Prof. Dr. Wilhelm Tauwinkl aus Bukarest und Prof. Dr. Adrian Muraru aus Jassy ein entsprechendes Übersetzungsprojekt in die rumänische Sprache seinen Anfang genommen.

Worin liegt der Gewinn, nun den lateinischen Text auf Deutsch greifbar zu haben?
Die «Vulgata sacra» wurde von Hieronymus in einem mehrsprachigen Umfeld verfasst, in welchem er in einem komplexen Prozess die Bibeltexte für ein lateinischsprechendes Publikum zugänglich machen wollte. Deshalb bergen die von Hieronymus übersetzten Texte auch einen Reichtum an Ansichten zu den Lebensbedingungen und dem Selbstverständnis der Bevölkerung der Spätantike. Zudem bietet das Studium der Texte in allen drei antiken Sprachen über das Verstehen der Übersetzertätigkeit des Hieronymus hinaus auch Erkenntnisse darüber, wie die verschiedenen Kulturen der Antike miteinander kommunizierten. Das ist für die aktuelle Forschung von Interesse und kann ihr wesentliche neue Impulse liefern. So können zum Beispiel Doppeldeutigkeiten im hebräischen Text genauer erfasst werden, indem diese durch die Übertragung in ihr lateinisches Pendant weiter verdeutlicht werden. Mit der «Vulgata deutsch» wollen wir der Exegese ein nützliches Instrument in die Hände geben, um differenziertere Einblicke zu ermöglichen.

Wie lief das Projekt ab?
Ich habe das Glück, mit Prof. Dr. Widu-Wolfgang Ehlers und Dr. Andreas Beriger engagierte Fachleute im Herausgeberteam zu haben. Zusammen mit ihnen, mit dem De Gruyter Verlag in Berlin und mit den rund 40 Übersetzern und Übersetzerinnen ist in nur sieben Jahren ein fünfbändiges Werk von über 5000 Seiten geschaffen worden. Diese grossartige Leistung war nur möglich, weil wir von Anfang an vom Vulgataverein, dem Rechtskörper des Projektes, und seinen Mitgliedern mit grosszügigen Spenden und viel Enthusiasmus unterstützt wurden. Entstanden ist eine dokumentarische und philologisch exakte deutsche Fassung der «Vulgata sacra», die das Übersetzerteam wie auch uns Herausgeber vor zahlreiche Herausforderungen gestellt hat. Satz für Satz wurde auf der Wortebene analysiert und sprachwissenschaftlich begründet übertragen, insgesamt waren das rund 2000 Seiten ohne jegliche Punkte oder Kommas.

Nun steht die «Vulgata deutsch» kurz vor ihrer Veröffentlichung. Welche Resonanz erwarten Sie?
Auch wenn Hieronymus heute über 1600 Jahre alt wäre, würde er sich in diesem Herbst wohl eine kurze Reise nach Chur nicht nehmen lassen, wenn die «Vulgata deutsch» vorgestellt wird. In dieser Fassung spiegeln sich die Zeitgeschichte, die kulturellen Fragestellungen und auch die Theologie der Antike. Sie bietet als ein frühes Zeugnis des Glaubens einen anderen, erweiterten Zugang zu den biblischen Texten. Die Einreihung in die Sammlung Tusculum von De Gruyter gibt der «Vulgata deutsch» einen Platz unter den antiken Klassikern der Weltliteratur, entsprechend gehe ich von einer regen Aufmerksamkeit in Fachkreisen und darüber hinaus aus.

Interview: Brigitta Schmid Pfändler und Fabio Theus

 

Die weitestverbreitete Bibelübersetzung

Die «Vulgata» ist die am weitesten verbreitete lateinische Übersetzung der Bibel, die ca. 380 bis 400 n. Chr. zum grössten Teil von Hieronymus (347–420) erstellt bzw. revidiert wurde. Da die «Vulgata» in entscheidenden Teilen von den Originalbibeltexten abweicht, gewährt sie einen wichtigen Einblick in die christliche Theologie der Spätantike und des Mittelalters. Die katholische Kirche hat die «Vulgata» über Jahrhunderte als massgebende Version der Heiligen Schrift angesehen und als Quelle verwendet. Das Konzil von Trient (1545–1563) veranlasste die Vorbereitung einer offiziellen, möglichst fehlerfreien Ausgabe. Diese wurde 1592 durch die «Sixto-Clementina» ersetzt. Die 1969 von Robert Weber und Roger Gryson herausgegebene «Biblia Sacra Vulgata» gilt bis heute als die massgebliche Ausgabe für die historische Forschung. Das Zweite Vatikanische Konzil veranlasste eine Neuedition der «Vulgata» auf Grundlage der hebräischen und griechischen Texte und nach dem aktuellen Stand der Textkritik. Diese erschien 1979 unter dem Namen «Nova Vulgata». Die «Vulgata deutsch» verwendet für den lateinischen Originaltext die 5. Auflage der «Biblia Sacra Vulgata» von Weber und Gryson. Die deutsche Übersetzung wurde völlig neu erstellt. Der Vulgata-Verein entschied sich dabei für eine dokumentarische Übersetzung. Das heisst: Der Wortlaut des Hieronymus wird so genau wie nur möglich in der deutschen Sprache wiedergegeben.

 

*Prof. Michael Fieger (geb. 1959 in Bukarest/Rumänien) studierte in Tübingen und München Theologie. Seit 2001 ist er Professor für Alttestamentliche Wissenschaften und Dozent für Althebräisch an der Theologischen Hochschule Chur. Von 2014 bis 2017 war er assoziierter Universitätsprofessor an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Bukarest.

1 Hieronymus (347– 420) war ein sehr gebildeter Theologe, der neben Latein auch Griechisch und Hebräisch beherrschte. Er lebte ab 385 in Palästina.

Die «Vulgata deutsch» wird am 23. Oktober um 18.30 Uhr an der Theologischen Hochschule Chur vorgestellt. www.projekt-vulgata.ch

Buchempfehlung:
«Biblia sacra vulgata». Von Michael Fieger, Widu-Wolfgang Ehlers und Andreas Beriger. De Gruyter Berlin 2018 (Sammlung Tusculum), ISBN 978-3-05-005827-6. Gebundene Ausgabe (Lateinisch-Deutsch): 5 Bände, ca. 4000 Seiten, ca. EUR 598.– (bei Ex Libris CHF 81.25 pro Band). Erscheint am 30. September.

 

Brigitta Schmid Pfändler und Fabio Theus

Lic. phil. I Brigitta Schmid Pfändler 
(Jg. 1965) studiert zurzeit Theologie an der Theologischen Hochschule Chur.

Fabio Theus (Jg. 1991) schliesst im Sommer sein Studium an der Theologischen Hochschule Chur mit dem Master ab.