Im Blick auf die Verheissung lesen

Die Methoden zur Auslegung der Bibel sind vielfältig. Eine Form der Schriftauslegung, die im Laufe der Zeit in Vergessenheit geriet, jetzt aber wieder an Bedeutung gewinnt, ist jene des «Vierfachen Schriftsinns».

Im Katechismus der Katholischen Kirche wird unter den Nummern 115 bis 119 die Lehre vom «Vierfachen Schriftsinn» als Methode der Bibel- interpretation empfohlen. Was besagt diese Lehre, die im Anschluss an den Apostel Paulus schon in der Frühen Kirche entwickelt, im Mittelalter systematisiert, von Martin Luther vehement abgelehnt und neuerdings als hochaktuell wieder-
entdeckt wurde?

Das Christusereignis als Schlüssel

Vorausgesetzt ist, dass die Bibel nicht als solche Offenbarung (und das Christentum deshalb auch keine Buchreligion) ist. Die Bibel ist vielmehr (vom Heiligen Geist inspiriertes) menschliches, genauer gesagt kirchliches Zeugnis der Offenbarung, die sich als Geschichte Gottes mit seinem Volk ereignet. Unüberbietbarer Höhepunkt dieser Geschichte ist das Christusereignis, welches das Leben und Wirken, die Lehre, vor allem aber das Leiden, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi umfasst.
Die hebräische Bibel, für die Christen das Alte Testament, ist Christuszeugnis im Modus der Verheissung und Vorausverkündigung. Der auferstandene Herr selbst erschliesst auf dem Weg nach Emmaus den Jüngern den Sinn der Schrift, indem er ihnen zeigt, dass Gesetz, Propheten und Psalmen von ihm reden (Lk 24,27.44). Im Anschluss an den Apostel Paulus (vgl. Gal 4,24) nennt man diesen christologischen Sinn des Alten Testaments auch den «allegorischen» Sinn. Weil ihn der Heilige Geist erkennen lässt, spricht man auch – wiederum mit Paulus (2 Kor 3,4–18) – vom «geistigen Sinn».

In dieser Zweiheit von buchstäblichem (oder historischem) Sinn und (von Christus als Fülle der Offenbarung her erkennbarem) geistigem Sinn liegt die Keimzelle von der Lehre vom «Vierfachen Schriftsinn». Der «Vierfache Schriftsinn» ist die Entfaltung des zweifachen Schriftsinns von historischem (oder buchstäblichem) und allegorischem (geistigem) Schriftsinn.

Es ist eine uralte Einsicht der Literaturwissenschaft, dass historische Texte grundsätzlich deutungsoffen sind und vom Rezipienten in je neuen Kontexten neu und auch tiefer verstanden werden können. Angewandt auf die Heilige Schrift bedeutet dies, dass erst mit der definitiven Neukontextualisierung der Schriften im Christusereignis deren Sinn vollends aufleuchtet, ohne dass der geschichtliche Anweg deswegen entwertet wäre. In der Exegese hat sich für diesen Sachverhalt der Terminus «relecture» eingebürgert: Im Neu- und Wiederlesen alter Texte enthüllt sich angesichts neuer Gotteserfahrung schon innerhalb der Geschichte Israels, besonders aber angesichts von Tod und Auferstehung des Christus Jesus, ein tieferer Sinn.

Die Schrift als Geschehen

Jetzt aber zur Lehre vom «Vierfachen Schrift- sinn»: Um sich die klassische Lehre leicht einprägen zu können, wurde sie im Mittelalter in einen rhythmischen Merkvers gegossen:

Littera gesta docet, quid credas allegoria.
Moralis quid agas; quo tendas anagogia.

(Der Buchstabe lehrt die Ereignisse;
was du zu glauben hast, die Allegorie;
der moralische Sinn, was du zu tun hast;
wohin du streben sollst, die Anagogie.)

Schon ein erster Blick auf diesen vierteiligen Merkvers zeigt, dass es nicht um eine willkürliche Aneinanderreihung beliebiger Aspekte geht, sondern dass darin eine Struktur erkennbar wird, die den gesamten Glaubensvollzug umfasst: Die Schrift bezeugt ein Geschehen. Dieses Zeugnis (des Buchstabens) will im Leser und Hörer den Glauben wecken, der nun in der Liebe wirksam wird und in der Hoffnung auf die ewige Gemeinschaft mit Gott seinen letzten Ziel- und Orientierungspunkt hat. Im Einzelnen:

Der Buchstabe lehrt die Ereignisse
Dies besagt, dass die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments zu verstehen ist als Zeugnis einer geschichtlichen Offenbarung. Die Bibel ist Offenbarungszeugnis, insofern menschliche Autoren, vom Heiligen Geist inspiriert, in menschlichen Worten Ereignisse bezeugen, in denen sich Gott selbst kundtut: «Gottes Wort in Menschenwort» (1 Thess 2,13). Die traditionelle Schriftauslegung ordnet dieser ersten Ebene den buchstäblichen Sinn zu.
Die Entwicklung der modernen Exegese bereichert die Rede vom buchstäblichen Sinn um wichtige Einsichten: Nicht jeder biblische Text hat ein geschichtliches Ereignis im Blick. Man weiss heute aufgrund der Arbeiten der Gattungskritik zu unterscheiden zwischen verschiedenen literarischen Formen, die jede Auslegung beachten muss. Wahr bleibt, dass christlicher Glaube sich nicht auf allzeit gültige philosophische Aussagen oder auf in Mythen und Märchen gekleidete menschliche Weisheiten stützt, sondern auf die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte.

Was du zu glauben hast, die Allegorie
In einem zweiten Schritt, der seit dem Apostel Paulus mit «allegoria» bezeichnet wird, geht es um die theologische Deutung des geschichtlichen Ereignisses. Unter Allegorie versteht die Tradition der Schriftauslegung mit Paulus den theologischen Zugang zur Schrift, der auf dem historischen Fundament aufbaut und das geschichtliche Zeugnis auf die sich darin bekundende Selbstmitteilung Gottes befragt. «Die Allegorie baut den Glauben auf», wird Gregor der Grosse (gest. 604) sagen.

Damit aber ist für den Christen das Ziel der Schriftbegegnung noch nicht erreicht. Der über den buchstäblichen Sinn hinausgehende allegorische Schriftsinn hat zwei weitere Aspekte in sich, die nicht einfach noch draufgesetzt werden, sondern ein inneres Moment darstellen.

Der moralische Sinn, was du zu tun hast
In der Schrift als ganzer und somit auch in jedem Abschnitt ist auch Weisung zum rechten Leben enthalten. Die Schrift zielt auf die Verwandlung des Christen in einen liebenden Menschen ab. Der Glaube verwirklicht sich in der Liebe, sagt der Apostel Paulus.

Seinen Zielpunkt hat die Lehre vom «Vierfachen Schriftsinn» in der Eschatologie.

Wohin du streben sollst, die Anagogie
Anagogie (von griech. «ana» = «hinauf» und «agein» = «führen») ist eine Wortneuschöpfung und bezeichnet die letzte Dimension, in die sich das biblische Zeugnis erstreckt. Das in der Schrift bezeugte Wort Gottes baut nicht nur den Glauben auf und entfacht nicht nur die Liebe des Christen, sondern führt seinen gläubigen Blick immer auch hin zu den verheissenen und erhofften Gütern.
Weil es keinen Glauben ohne Hoffnung und ohne Liebe geben kann, bewegt der geistige Sinn der Schrift den Leser und Betrachter immer schon hin zu einem Leben in Glaube, Hoffnung und Liebe. Somit umfassen die drei über den buchstäblichen Sinn hinausgehenden Glieder insgesamt den «geistigen» Schriftsinn.

Das vierfache Jerusalem

Zur Veranschaulichung der Lehre eignet sich das Beispiel «Jerusalem», das Johannes Cassian bereits im 5. Jahrhundert zur Illustration des «Vierfachen Schriftsinns» herangezogen hat. Es umgreift durch seine Weite irgendwie alle anderen möglichen Beispiele. Die Stadt Jerusalem kann nacheinander in einem vierfachen Sinn verstanden werden:

  1. Jerusalem als historische Stadt ist der Schauplatz der Passion Jesu und damit Ort der Heilsgeschichte.
  2. Im allegorischen Sinn kann Jerusalem als Sinnbild für die in Christus erneuerte Stadt Gottes (Civitas Dei) gelten.
  3. Im moralischen Sinn bezeichnet sie die christliche Seele, in die der Herr Einzug halten will wie seinerzeit in das historische Jerusalem.
  4. Und schliesslich kennt schon die Apokalypse das Bild vom himmlischen Jerusalem als der Stadt der Vollendung.

Nicht in jedem Wort oder jeder Perikope müssen alle vier Dimensionen enthalten sein. Entscheidend ist die Grundeinsicht und die aus ihr sich ergebende Dynamik: von der Geschichte zum Glauben, der sich in der Liebe verwirklicht und von der Hoffnung getragen ist.

Der Alttestamentler Norbert Lohfink hat die Bedeutung der Lehre vom «Vierfachen Schriftsinn» mit folgenden Worten beschrieben: «Die uns heute so fremdartig anmutende Hermeneutik des Vierfachen Schriftsinns war nichts als ein genialer und durch viele Jahrhunderte hindurch praktizierter Versuch, jeden einzelnen Text immer vom Ganzen der Bibel her und auf das Ganze hin zu lesen und dabei nicht loszulassen, bis der Text so durchsichtig geworden war, dass er seine Bedeutung für die eigene Glaubensexistenz aufleuchten liess.»

+ Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg


Rudolf Vorderholzer, Bischof von Regensburg

Prof. Dr. Rudolf Voderholzer (Jg. 1959) studierte Philosophie und Theologie in München. Nach einem Lehrauftrag in Freiburg i. Ue. war er von 2005 bis 2013 Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Theologischen Fakultät Trier. 2013 wurde er zum Bischof von Regensburg geweiht. Er ist Direktor des «Institut Papst Benedikt XVI.» und Mitglied der Kongregation für die Glaubenslehre.