Auf dem Weg zum eigen-sinnigen Bibellesen

Die Bibel ist inzwischen in 674 Sprachen erhältlich und ist doch für viele Gläubige ein unverständliches Buch geblieben. Der Zugang zu den alten Texten und fremden Lebenswelten fällt schwer.

Die Zukunft des Glaubens wird davon abhängen, ob Christen eigen-sinnige Bibelleser werden: Menschen also, die in eigener Verantwortung die biblischen Überlieferungen aufschliessen und sie – gemeinsam mit anderen – als Kraftquellen für Glauben und Leben zur Geltung kommen lassen. Diese Arbeit ist sicher für viele reizvoll, aber relativ ungewohnt.

Erfahrungen verbinden

Zunächst einmal steht vielen die «Buchstabengläubigkeit» im Weg, welche die biblische Überlieferung als Bericht von Tatsachen festlegt, die ein Christ glauben müsse. Dieses immer noch verbreitete Urteil verkennt den Charakter der Bibel als Bekenntnis von Menschen in ihrer geschichtlichen Situation. Damit verstellt es den Blick auf die Chance, an den Glaubens- und Lebenserfahrungen dieser Menschen teilzunehmen. Dieses Hindernis muss fortgeräumt werden, denn die Bibel erschliesst sich der heutigen Leserin, dem heutigen Hörer nur, wenn sie erfahrungsbezogen verstanden wird. Dieser Zugang hat zwei Aspekte:

Die Frage nach dem Glauben und dem Leben der Menschen, die sich in der Welt der Bibel zeigen (Kontext I), muss die Interpretation leiten.
Die Frage nach dem Glauben und dem Leben der heutigen Empfänger (Kontext II) muss das Verständnis bestimmen.

Die Auslegung der Bibel bedeutet nichts anderes, als dass diese Kontexte zusammenkommen; das Verbindende ist die Erfahrung der damals und heute Lebenden. In dem Augenblick, in dem der heutige Leser im Kontext seiner Erfahrungen die Erfahrungen der Vergangenheit befragt, ist er am Prozess der Auslegung aktiv beteiligt; er wird Subjekt des Verstehens.

Barrieren überwinden

Weitere Barrieren, die sich dem Bibelleser in den Weg stellen, sind Strukturen, die ihn gewissermassen unter Aufsicht stellen: Es sind Strukturen der Übermittlung, in denen Vermittler (in der Regel Pfarrer) dafür sorgen, dass die biblische Überlieferung die heutigen «Adressaten» als vermeintlich eindeutige «Botschaft» erreicht. Und es sind Strukturen des Verstehens, in denen die Sachverständigen (in der Regel Bibelwissenschaftler) das erste und letzte Wort beanspruchen. Diese Strukturen müssen zunächst als Barrieren erkannt werden. Sie bauen sich vor den interessierten Bibellesern auf und bieten nur einen engen Durchlass auf vorgegebene Sichtweisen. Darum sind Möglichkeiten zur Überwindung zu suchen: Experten und Vermittler sind nicht abzuweisen, aber ihr Stellenwert im Verstehensprozess ist neu zu bedenken. Sie sollten sich nicht länger als Vormund von Adressaten der biblischen Überlieferung verstehen, sondern als Unterstützer bei der selbstständigen Lektüre.

Eigene Wege finden

Und dann wird der Interessierte sich fragen: Bin ich bereit, mich von den Autoritäten des Glaubens (Kirchenlehre, Experten oder Vermittler) zu lösen und damit auch die Sicherheit aufzugeben, die diese mit sich führen? Bin ich bereit, meinen eigenen Weg des Glaubens zu gehen – in der mündigen Lektüre der Bibel, im Gespräch mit anderen? Dabei wird es auf Unterstützung ankommen. Es liegt auf der Hand, dass es nicht damit getan ist, den Lesern Ergebnisse von Bibelinterpretationen vorzulegen. Dann wären sie wieder nur «Adressaten» vorgegebener Informationen.

Ich arbeite seit langer Zeit intensiv daran, Wege zum eigen-sinnigen Verständnis der Bibel so vorzustellen, dass andere sie mit eigenen, selbst gewählten Schritten gehen können. Praktisch: Ich erläutere unterschiedliche Interpretationswege, ihre Ausgangspunkte, Ziele und Methoden. Im Interesse der Anschaulichkeit und Überprüfbarkeit werden die Auslegungskonzepte exemplarisch als Wege zu verschiedenen Texten aus dem Ersten und dem Neuen Testament dargestellt. In meinem letzten Buch (siehe Buchempfehlung) habe ich als Arbeitsfeld eine Erzählung gewählt, die wie kaum eine andere überlagert, ja verschüttet ist von widerstreitenden dogmatischen Überhöhungen, ideologischen Interessen und anderem Schrott: die Erzählung vom so genannten «Sündenfall» (Gen 3). Hier zeigt sich, wie fruchtbar das eigen-sinnige Lesen der Bibel sein kann.

Horst Klaus Berg

 

Buchempfehlung:
Wer heute einen Zugang zu Gottes Wort sucht, sieht sich mit vielen einseitigen Meinungen und Methoden konfrontiert. Das Buch «Gottes Wort braucht keinen Vormund. Wege zur selbstständigen Auslegung der Bibel» zeigt Wege zu einem eigenen Verständnis der Bibel auf. Von Horst Klaus Berg, Ostfildern 2017, ISBN 978-3-7867-3125-2, CHF 29.–, www.gruenewaldverlag.de


Horst Klaus Berg

Prof. em. Dr. theol. Horst Klaus Berg (Jg. 1933) studierte Philosophie, Theologie und Erziehungswissenschaft in Heidelberg und Hamburg. Nach seiner Tätigkeit als Pastor in Oldenburg/Holstein wurde er Dozent am Religionspädagogischen Institut Loccum. 1973 erfolgte die Berufung als Professor für Evangelische Theologie/Religionspädagogik an die Pädagogische Hochschule Weingarten/Württ.