«Ihr seid unsere Lebensversicherung»

Seit Jahrzehnten leiden Menschen unter der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete. Menschenrechtsbeobachter tragen zu einem friedvolleren Miteinander bei.

Ein Schulkind in Hebron wartet auf seinem Weg zur Schule bei einem Checkpoint auf den Durchlass. (Bild: Bettina Flick)

 

Es ist sieben Uhr morgens, ich stehe mit einem Kollegen in der Nähe eines «Checkpoints» in der Stadt Hebron im Westjordanland. Durch diesen Kontrollpunkt müssen täglich Kinder gehen, um zur Schule zu kommen. Auch Erwachsene auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen passieren den Checkpoint, in dem zwei israelische Soldaten (manchmal auch Soldatinnen) sitzen und die Identitätskarten prüfen.

Heute Morgen ist alles ruhig, ein paar Kinder grüssen uns freudig, ein älterer Mann lächelt uns an. Plötzlich hören wir laute Stimmen aus dem Checkpoint und gehen hinein. Vier palästinensischen Arbeitern wird der Durchgang verweigert, ohne ihnen dafür die näheren Gründe anzugeben. Die Männer versuchen zu diskutieren. Draussen bildet sich eine Schlange von Menschen: Schulkinder, Lehrerinnen, Anwohner, die gern weitergehen würden. Nach 20 Minuten geben die Arbeiter auf und gehen zurück. Einer sagt uns: «Es ist schon der dritte Arbeitstag, den ich diese Woche verliere. Ich weiss nicht, was ich noch tun soll.» Die Kinder rennen nun an uns vorbei, um nicht zu spät zu kommen. Beim nächsten Checkpoint zögern sie, ängstlich schauen sie zu den Soldaten, bevor sie den Mut haben, an ihnen vorbei zur Schule zu gehen.

Kinder auf dem Schulweg begleiten

Solche und ähnliche Situationen habe ich oft erlebt in meinem Einsatz als Menschenrechtsbeobachterin mit «Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel» (EAPPI)*. Eine meiner Hauptaufgaben in Hebron war dieser «school run»: Sie besteht darin, auf dem Schulweg palästinensischer Kinder präsent zu sein, genau dort, wo sie israelischen Soldaten und eventuell israelischen Siedlern begegnen.
Meist war alles ruhig. Die Soldaten nahmen kaum Notiz von den Kindern. Manchmal waren Spannungen spürbar: Beispielsweise parkte eine israelische Siedlerin ihr Auto so nah an der Treppe zur Schule, dass die Kinder nicht weitergehen konnten. Da wurde plötzlich ein Checkpoint geschlossen und niemand wusste, ob er in zehn Minuten oder erst in zwei Stunden wieder geöffnet würde. Einmal drangen Soldaten in ein Schulgebäude ein und warfen sogar Tränengas in einen Schulhof.

Vor Ort sein, beobachten, berichten

Die Anwesenheit der internationalen Menschenrechtsbeobachter soll die Spannung etwas entschärfen. Manchmal eskaliert Gewalt weniger schnell, wenn Unbeteiligte zuschauen. Wenn die Beobachter Zeugen von Gewalt werden, berichten sie darüber an UNO-Organisationen und weitere Friedensakteure. Darüber hinaus besuchen sie Menschen, die konkret unter der israelischen Besatzung in den palästinensischen Gebieten leiden, und drücken damit Solidarität aus. Des Weiteren nehmen sie an Gottesdiensten in christlichen Gemeinden teil, um der christlichen Bevölkerung im Heiligen Land zu zeigen: Ihr seid nicht vergessen! Und nach dem dreimonatigen Einsatz erzählen die Menschenrechtsbeobachter daheim über das, was sie vor Ort gesehen und gehört haben.

Vielseitiger Einsatz

An insgesamt sieben Orten in den besetzten palästinensischen Gebieten ist EAPPI im Einsatz; je nach Einsatzort erwarten die Teams andere Aufgaben. Manche begleiten palästinensische Beduinen beim Weiden ihrer Schafherden und erleben mit, wenn israelische Soldaten oder Siedler ihnen den Zugang zu ihrem Land verweigern wollen. Einige Beobachter übernachten bei palästinensischen Familien, um ihnen ein wenig Sicherheit zu vermitteln. Andere stehen morgens um vier Uhr an Checkpoints, durch die Palästinenser zu ihrer Arbeit nach Israel gehen und wo sie oft lange Wartezeiten und unnötige Schikanen in Kauf nehmen müssen. Zudem werden gewaltfreie israelische und palästinensische Friedensaktivitäten begleitet und unterstützt. Und an allen Orten kann es sein, dass die Beobachter gerufen werden, um einer Hauszerstörung durch das israelische Militär beizuwohnen oder anschliessend mit einem Besuch den Betroffenen ein wenig Mut zu machen.

Eine sinnvolle Aufgabe

Schon zum zweiten Mal konnte ich einen solchen Einsatz leisten. Es ist nicht immer einfach, die konkreten Auswirkungen der Besatzung Palästinas durch das israelische Militär im Alltag mitzuerleben. So viele Geschichten von Not und Ungerechtigkeit habe ich gehört, so viele Momente voller Spannung miterlebt. Es sind die kleinen Momente, die mir immer wieder neu gezeigt haben, dass die Aufgabe als Menschenrechtsbeobachterin Sinn macht: Da traut sich ein Schulkind nicht, allein an den Soldaten vorbeizugehen, ergreift aber freudig meine Hand und geht mit mir zusammen nach Hause. Ein Beduine, dessen Zelt schon mehrfach zerstört wurde, meint: «Wenn ihr mich nicht immer wieder besuchen würdet, hätte ich schon lange aufgegeben und wäre geflüchtet.» Und ein palästinensischer Friedensaktivist ist überzeugt: «Ihr seid unsere Lebensversicherung. Weil ihr da seid, ist die Gewalt weniger schlimm.»

Bettina Flick

 

*Das «Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel» (EAPPI) ist eine Initiative des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK/WCC) im Rahmen der ökumenischen Kampagne zur Beendigung der Besetzung Palästinas und für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

EAPPI antwortet auf einen Ruf der lokalen Kirchen sowie von palästinensischen und israelischen Menschenrechtsorganisationen nach internationaler Präsenz. Das Programm ist ein Zeichen der internationalen christlichen Gemeinschaft mit den Kirchgemeinden vor Ort. In der Schweiz übernehmen HEKS und Peace Watch Switzerland die Verantwortung, Freiwillige für den Einsatz bei EAPPI auszuwählen, vorzubereiten und zu begleiten.
www.peacewatch.ch


Bettina Flick

Bettina Flick (Jg. 1966) studierte Theologie in Freiburg im Breisgau und in Freiburg in Üechtland. Sie ist Pastoralassistentin im Bistum St. Gallen in der Seelsorgeeinheit Magdenau. 2014/2015 und 2017/2018 war sie je drei Monate als Menschenrechtsbeobachterin in Palästina tätig.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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