«Gemeinsam und mit Gottvertrauen weitergehen»

Das Bistum St. Gallen reicht vom Bodensee bis zum Zürichsee und vom Fürstenland bis ins Oberland. Über seine Herausforderungen in der Geschichte, heute und in Zukunft sowie das Jubiläumsjahr sprach die SKZ mit Bischof Markus Büchel.

Bischof Markus Büchel (Jg. 1949) empfing am 3. April 1976 die Priesterweihe in Rüthi. Nach zwei Vikarstellen in der Stadt St. Gallen übernahm er 1988 das Amt des Pfarrers in Flawil. 1995 wurde er in St. Gallen zum Bischofsvikar und Kanonikus ernannt, wo er unter anderem ab 1999 als Domdekan wirkte. Am 4. Juli 2006 wurde er zum Bischof von St. Gallen gewählt und ist zudem Apostolischer Administrator der beiden Appenzell. (Bild: Bistum St. Gallen)

 

SKZ: Bischof Markus Büchel, Ihr Bistum feiert sein 175-Jahr-Jubiläum. Was freut Sie besonders in diesem Jubiläumsjahr?
Bischof Markus Büchel: Das Bistumsjubiläum fällt in die Zeit des synodalen Prozesses. Bei uns wie in anderen Diözesen im In- und Ausland werden Themen offener angesprochen als dies in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten der Fall war, beispielsweise die Rolle der Frauen in der Kirche. Das erlebe ich als wichtige Aufbruchstimmung. Es freut mich, dass dieser Prozess, den wir auch in Deutschland eindrücklich erleben, zeitlich mit unserem Bistumsjubiläum zusammenfällt. Das Jubiläumsprogramm hat für alle etwas. Wir blicken nicht allein zurück, sondern in die Gegenwart und in die Zukunft der Kirche im Bistum St. Gallen. Alle Regionen sind einbezogen, wir sind beispielsweise durch die Pilgerwanderungen in unseren 33 Seelsorgeeinheiten präsent. Mit den speziellen Jugendanlässen werden junge Menschen angesprochen und ich freue mich sehr auf den grossen Festtag als Abschluss des Jubiläumsjahres im St. Galler Stiftsbezirk. In allen Programmpunkten geht es um Gemeinschaft und um spirituelle Inhalte, um eine Glaubensvertiefung. Die grossen Exerzitien im Alltag laufen bereits seit dem Otmarstag 2021. Der gesamte Auftritt des Bistumsjubiläums ist erfrischend und vermittelt Vorfreude auf das Geburtstagsfest unseres Bistums.

Im St. Galler Heimatlied heisst es in der ersten Strophe: «Sant Gallä isch mis Heimatland, bunt gschägget isch sis Chleid…». Wie sieht das Kleid des Bistums St. Gallen aus?
Das Bistum St. Gallen reicht für mich über drei Kantone: St. Gallen, Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden. Eigentlich sind wir ein Kantonalbistum, das ist richtig, und die beiden Appenzell sind eine Apostolische Administratur. Pastoral besteht aber kein Unterschied. Auf unserem landschaftlich wunderschönen Gebiet gibt es eine Vielfalt – von urbanen Räumen bis in hohe Alpentäler. Auf der Linie Rorschach–St. Gallen–Wil oder im Raum Rapperswil-Jona leben sehr viele Menschen, es sind urbanere Räume. In den Alpentälern wie dem Taminatal leben die Menschen im Schatten des höchsten St. Galler Berges, dem Ringelspitz mit rund 3200 Metern Höhe. Nicht alle St. Galler Regionen sind in Richtung Hauptstadt orientiert. Im Sarganserland ist Chur nächster grösserer Ort, am Obersee gibt es eine Orientierung nach Zürich. Unsere «Bistumszentrale» ist so gesehen am Rand der Diözese, geografisch liegt das Toggenburg im Zentrum. Trotzdem pflegen wir von der Bistumsleitung her in alle Gebiete regelmässige Kontakte, was bedingt durch die Grösse oder eher die «Kleine» unseres Bistums einfacher ist als in Diözesen mit acht oder zehn Kantonen. Wir sind im Grenzgebiet zu Österreich und dem Fürstentum Lichtenstein, in die Diözese Feldkirch bestehen sporadisch Kontakte.

Ich will mit Ihnen kurz auf 175 Jahre Bistumsgeschichte blicken: Welche Impulse gingen von Personen und Gemeinschaften aus dem Bistum St. Gallen aus, die über die Bistumsgrenzen hinaus eine grosse Wirkung zeigten?
Das Bistum St. Gallen war stets geprägt von Bischöfen, die soziale Bewegungen sehr gefördert haben. In der Zeit von Bischof Ivo Fürer, damals Bischofsvikar, wurde unsere Diözese durch den Aufbau des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen1 internationaler. Bis heute liegt sein Sitz in St. Gallen. Von hier aus gingen wichtige Impulse in Richtung ökumenische Zusammenarbeit – wie z. B. die grossen Versammlungen von Basel, Graz und Sibiu. Das beeinflusste auch das ökumenische Zusammenleben im Gebiet des Bistums St. Gallen positiv. In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren die grössten Veränderungen die Bildung von 33 Seelsorgeeinheiten aus 142 Pfarreien sowie die Einführung der Firmung 18 plus. Die Freiwilligenarbeit hat einen deutlich höheren Stellenwert erhalten. Der Schwerpunkt der sozialen Ausrichtung ist bis heute wesentlich und wird durch die Caritas, die Diakonie-Animation und die Sozialdienste gewährleistet. Guter Kontakt besteht auch mit Verbänden wie den Jugendverbänden oder dem Frauenbund. Eine der Nachwirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Synode 72 ist die Einführung der sehr wichtigen Ratsarbeit (Pfarreiräte und Diözesane Räte). Eine sehr grosse Bedeutung hatten im Bistum St. Gallen immer die Ordensgemeinschaften mit ihren Schulen (Mittelschulbildung) und heute in der Seelsorge, auch wenn es weniger geworden sind. Wir haben vermutlich das dichteste Netz von Orden und Kongregationen. Leider mussten in den vergangenen Jahren mehrere Klöster geschlossen werden.

Der St. Galler Bischof Alois Scheiwiler2 sprach sich 1938 als einziger Bischof der Schweiz gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung und den Antisemitismus aus. Inwieweit war er anschliessend Repressionen ausgesetzt oder wurde von Gruppen und Personen unterstützt?
Bischof Alois Scheiwiler hat sich in dieser unsäglichen Zeit deutlicher geäussert als andere Bischöfe. Er veröffentlichte mehrere Schriften, in denen er Stellung bezog gegen den Rassenwahn, die Judenverfolgung und die Verfolgung von Menschen, die nicht in ein «arisches Menschenbild» passten wie Sinti, Roma oder behinderte Menschen. 1938 verurteilte er in seinem letzten Hirtenschreiben das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die Kirchen. Wie das wohl immer der Fall ist, gab es Menschen, die ihn dafür kritisiert haben und andere, die sich ebenfalls gegen den Nationalsozialismus wendeten. Wir dürfen nicht vergessen – auch in der Schweiz gab es Anhängerinnen und Anhänger der menschenverachtenden Nazi-Ideologie.

Welches waren sehr schwierige Zeiten für das Bistum?
Ich möchte hier bei meinem eigenen Erleben bleiben, also bei den vergangenen 50 Jahren. Herausfordernd war und ist sicher der Wandel von einer Volkskirche, dem Milieu-Katholizismus, zur heutigen Kirche. Bischof Ivo Fürer hat dafür einen sehr passenden Vergleich geprägt: Wir müssen hinaus aus dem Treibhaus und uns in einer säkularisierteren Welt bewegen. In den vergangenen Jahrzehnten war die furchtbare Missbrauchsthematik für alle Kirchenmitglieder sehr belastend. Im Bistum St. Gallen hat Bischof Ivo Fürer sehr zukunftsweisend reagiert, als der Missbrauch eines Pfarrers an einem minderjährigen Knaben aufgedeckt wurde. Er hat ihn angezeigt, der unterdessen verstorbene Priester war mehrere Jahre im Gefängnis. Aus dieser Erfahrung heraus wurde 2002 das Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe in der Seelsorge mit externen Fachleuten gegründet. 2019 habe ich einen (verjährten) Fall von Übergriffen gegen einen Minderjährigen durch einen pensionierten Priester angezeigt. Froh bin ich grundsätzlich darüber, dass Missbrauch heute in Kirche und Gesellschaft stark im Fokus steht. Im Bistum St. Gallen pflegen wir ansonsten ein sehr gutes Verhältnis mit den staatskirchenrechtlichen Organisationen, gemeinsam überwinden wir auch schwierige Situationen besser. Zudem ist das weitreichende Recht zur Bischofswahl eine gute Grundlage für Konstanz in der Leitung des Bistums. Ein Bischof von St. Gallen ist nie ein Fremder.

Vor welchen grossen Aufgaben steht das Bistum heute?
Die Personalsituation ist eine grosse Aufgabe, wir haben nicht nur zu wenige Priester, sondern auch zu wenig Theologinnen und Theologen und Religionspädagoginnen und -pädagogen. Eine gewaltige Herausforderung ist die Entfremdung vieler Getaufter von der Kirche als Institution. Wie können wir sie wieder ansprechen? Was gehört wesentlich zum Glaubensverständnis und wo können wir neue Formen finden? Die Kirche muss sich ethischen Herausforderungen wie gesellschaftlichen Veränderungen stellen. Dazu gehört unbedingt die Stellung der Frau in der Kirche oder die Anerkennung der Vielfalt von Partnerschaftsformen.

Das Bistum weist viele Kirchen und Kapellen auf. Welche mögen Sie besonders und weshalb?
In der Valentins-Kirche von Rüthi im Rheintal, meinem Heimatort, wurde ich getauft. Die Kathedrale ist «meine» Bischofskirche. Da ich viel unterwegs bin, kenne ich alle Kirchen, Klosterkirchen und viele Kapellen im Bistumsgebiet. Deren Schönheit und ihr geschichtlicher Reichtum sind beeindruckend. Ebenso der starke Wille der Katholikinnen und Katholiken, sie zu unterhalten und zu pflegen. Ich wüsste kein Gotteshaus, das sich nicht in einem guten Zustand präsentiert. Ermöglicht wird auch das durch Kirchensteuern, die viele, auch kirchenfernere Menschen, entrichten. Ich danke herzlich dafür!

Was erhoffen Sie sich für die Kirche im Bistum St. Gallen von diesem Jubiläumsjahr und darüber hinaus?
Ich wünsche mir ein gestärktes Gemeinschaftsgefühl und eine neue Freude am Glauben. Dass Menschen den christlichen Glauben als Lebenshilfe neu entdecken dürfen. Alle Programmpunkte unseres Jubiläums sind ein Anstoss, gemeinsam und mit Gottvertrauen weiterzugehen.

Interview: Maria Hässig

 

 

1 Mehr Informationen zum Rat der Europäischen Bischofskonferenzen unter: www.ccee.eu

2 Bischof Alois Scheiwiler (1872–1938) war von 1930 bis 1938 Bischof von St. Gallen. Mehr zur Person Scheiwilers und seinem christlichsozialen Engagement finden Sie im Historischen Lexikon der Schweiz HLS: www.hls-dhs-dss.ch