Es muss wohl zwischen 612 und 630 gewesen sein, als Gallus, der charismatische und gelehrte Mönch aus Irland, der am Flüsschen Steinach eine Mönchssiedlung errichtet hatte, von Herzog Gunzo zur Wahl zum Bischof von Konstanz vorgeschlagen wurde. Die Wahl war ausgemacht, aber Gallus lehnte ab, weil er das Bischofsamt nicht als seine Bestimmung erachtete, aber auch, weil er aus einem fremden Land stammte – ein indirekter Hinweis auf seine irische Abstammung. Gleichwohl liess er die Verantwortlichen nicht hängen. Bereits zuvor hatte er den aus Grabs stammenden Churräter Diakon Johannes drei Jahre lang in die Theologie eingeführt. Dieser wurde tatsächlich in der Folge zum Bischof von Konstanz gewählt.1
St. Gallen und Konstanz
Eine enge Beziehung zwischen St. Gallen und Konstanz bestand also seit Gallus, aber sie war oft nicht einfach. Schon im 8. Jahrhundert gab es Konflikte, weil die fränkisch orientierten Bischöfe von Konstanz sich auch das Abbatiat des alemannischen Klosters St. Gallen anmassten. Kaiser Ludwig der Fromme beendete diese Phase im Jahr 818, indem er St. Gallen in weltlichen Dingen von Konstanz unabhängig machte. Damit schuf er die Voraussetzung zur Entwicklung des Gallusklosters zum kulturellen Zentrum und zur Fürstabtei.
Kirchlich blieb die formelle Zuständigkeit des Bischofs von Konstanz jedoch bis 1815, also mehr als ein Jahrtausend lang, bestehen. Jedenfalls äusserlich, innerlich war es komplizierter. Auch wenn genauere Nachrichten darüber fehlen, ist nämlich anzunehmen, dass das Kloster in seinem Territorium bereits seit dem Frühmittelalter wichtige kirchliche Zuständigkeiten für sich in Anspruch nahm. Im 16. Jahrhundert kam es deswegen zu Spannungen zwischen dem St. Galler Fürstabt und dem Bischof von Konstanz. Mit der Hilfe Roms gelang es Fürstabt Bernhard Müller (1594–1630) und dem st. gallischen Verhandlungsführer Jodocus Metzler (1574–1639), die wohl schon längst wahrgenommenen quasi-bischöflichen Rechte St. Gallens festzuschreiben. 1613 hielt die römische Rota in einer Entscheidung fest, «es sei eine bewiesene Tatsache, dass die St. Galler Äbte seit undenklicher Zeit die zivile und kriminelle, weltliche und geistliche Gerichtsbarkeit über alle kirchlichen Personen in allen der weltlichen Herrschaft des Abtes unterstellten Orten ausgeübt hätten.»2 Im gleichen Jahr schlossen Konstanz und St. Gallen ein Konkordat ab, das von Papst Paul V. am 27. Februar 1614 mit der Bulle In apostolica dignitatis culmine bestätigt wurde. Dieses Konkordat von 1613 regelte die praktische Zuständigkeit des Fürstabts in seinem Herrschaftsgebiet und schuf die Grundlage für die Schaffung einer quasi-bischöflichen Kurie in St. Gallen, des sogenannten «stift-sanktgallischen Offizialats». An dessen Spitze stand bis zum Ende des Klosters ein Offizial, der seine Aufgabe stellvertretend für den Fürstabt wahrnahm.
Auflösung der Fürstabtei
Nach neuen Kompetenzstreitigkeiten und erneuten Verhandlungen wurden die Rechte des Fürstabts 1748 in einem neuerlichen Konkordat gestärkt. Das war ein weiterer Schritt hin zur Errichtung eines eigenen Bistums. Eigentlich fehlte St. Gallen jetzt nur noch der bischöfliche Titel und die mit ihm verbundene Weihegewalt3. Die kontinuierliche Arbeit des Klosters für die Schaffung eines Fürstbistums St. Gallen sollte jedoch in dieser Form nicht mehr Wirklichkeit werden. 1798/99 wurden die Mönche vertrieben und 1805 die Fürstabtei, damals eines der ältesten noch bestehenden Staatswesen Europas, nach einer fragwürdigen Abstimmung im Grossen Rat des Kantons St. Gallen aufgelöst und ihr umfangreicher Besitz liquidiert. Das gewaltsame Ende der Fürstabtei war zweifellos schmerzhaft. Aber es entstand so auch Raum für Neues. Ein ausgesprochener Glücksfall war 1813 die Schaffung einer staatskirchenrechtlichen Körperschaft, des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen. Dieser übernahm nicht nur das einzigartige kulturelle Erbe der Fürstabtei, sondern spielte als demokratische Organisation der katholischen Bevölkerung eine aktive und entscheidende Rolle für die weitere kirchliche Entwicklung, die 1847 zur Errichtung des selbständigen Bistums St. Gallen führte (vgl. dazu den Beitrag von Franz Xaver Bischof auf Seite 128 bis 129 in dieser Ausgabe).
Klein und fein
Am 29. Juni 1847 weihte der päpstliche Nuntius in Luzern, Alessandro Macioti (1798–1859), Johann Peter Mirer (1847–1862) in der Kathedrale zum ersten Bischof von St. Gallen. Es war buchstäblich in letzter Sekunde vor dem Ausbruch des Sonderbundkriegs. Bereits im Mai hatten die Radikalen im sanktgallischen Grossen Rat eine knappe Mehrheit errungen. St. Gallen verhalf wenige Wochen nach der Bischofsweihe als «Schicksalskanton» den radikalen Kantonen in der Tagsatzung zur Mehrheit. Am 20. Juli 1847 fiel der Entscheid zur Auflösung des Sonderbunds der konservativen Kantone, der im November mit Waffengewalt vollzogen wurde. An Bistumsverhandlungen wäre unter diesen Umständen nicht mehr zu denken gewesen.
Da stand es nun, das Bistum St. Gallen. In den Umrissen des 1803 geschaffenen Kantons St. Gallen durfte es auf eine bemerkenswerte kirchliche Tradition zurückschauen, bezeugt durch eindrückliche Gebäude und überaus bedeutende Schätze in Stiftsbibliothek und Stiftsarchiv, die 1983 von der UNESCO als Weltkulturerbe und 2009 und 2017 als Weltdokumentenerbe ausgezeichnet wurden. Das Bistum besitzt mit Gallus zudem einen über die Region hinaus bekannten und authentischen Bistumspatron, dem mit Otmar, Wiborada und dem seligen Notker Balbulus weitere örtliche Heilige zur Seite stehen. Klein und fein.
Kirchengeschichtlich bedeutsam ist die Tatsache, dass im Bistum St. Gallen das duale System früh und mustergültig umgesetzt wurde. Die Übereinstimmung mit den Kantonsgrenzen und der Katholische Konfessionsteil schufen gute Voraussetzungen dafür. Im dualen System, das in weiten Teilen der Schweiz besteht, wird die Verantwortung geteilt zwischen der hierarchisch nach Rom ausgerichteten Bistumskirche unter Leitung des Bischofs einerseits und den Laien, die sich in den konfessionellen Behörden organisieren und der Kirche ihre Infrastruktur und Finanzen bereitstellen andererseits. Gerade angesichts der aktuellen Kirchenskandale zeigt dieses System mit seinen «checks and balances», die auch in der Kirche nottun, seine Vorteile. Hinzu kommt, dass die geteilte Verantwortung zwischen Klerus und Laien sehr gut der vom Zweiten Vatikanischen Konzil postulierten Idee des Gottesvolks entspricht, das sich auf dem Weg befindet. St. Gallen zeigt, wie das duale System positiv gelebt werden kann.
Über die Bistumsgrenzen hinaus
Innerhalb der Schweizer Kirche spielt St. Gallen trotz oder vielleicht gerade wegen seiner vergleichsweise geringen Grösse eine wichtige Rolle. Seine Bischöfe waren immer wieder erneuernde Gestalten, etwa Karl Johann Greith (1862–1882), der den Mut hatte, sich am Ersten Vatikanischen Konzil gegen die Definition der Unfehlbarkeit auszusprechen, und der die Schweizer Kirche durch den Kulturkampf steuerte, Augustinus Egger (1882–1906), der die Kirche für soziale Anliegen öffnete, und Aloisius Scheiwiler (1930–1938), der deutlicher als alle seine Schweizer Amtskollegen gegen die Nazis Stellung nahm. Auch das Wirken Ivo Fürers (1995–2005) hat über St. Gallen hinausweisende Spuren hinterlassen. Er wirkte nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der Schweiz und in Europa massgeblich für die Etablierung synodaler Prozesse und war Mitbegründer des Rats der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), dessen Sekretariat er von 1977 bis 1995 führte. Das CCEE hat inzwischen seinen Sitz fest in St. Gallen genommen. Eine weitere Frucht von Bischof Fürers Arbeit ist das ebenfalls in St. Gallen domizilierte und vom Katholischen Konfessionsteil getragene Schweizerische Pastoralsoziologische Institut, das unverzichtbare soziologische Grundlagenarbeit zur Situation der Kirche in der Schweiz leistet.
Bei allem Schwierigen, mit dem die Kirche heute konfrontiert ist, darf man sagen, dass Bistum und Konfessionsteil, Klerus und Laien in St. Gallen das Werk von Gallus gemeinsam weiterführen und dafür zeitgemässe Formen gefunden haben.
Cornel Dora