Fest der Heiligen Familie

Holzschnitt

Bedrohte Familien

Eine Betrachtung zum Fest der Heiligen Familie sollte der Realität, die sich im Bild auf dieser Seite ausdrückt, standhalten.1 Im Rahmen einer Begegnung von Bischof Felix Gmür mit der Bewegung ATD Vierte Welt in Basel am 4. Mai 2016 wurden dazu zwei Fürbitten aus unterschiedlichen Perspektiven formuliert.

Sie zeigen mit dem Finger auf arme und fremde Menschen

«Wenn ich sehe, dass man andere offen ablehnt, bin ich betroffen. Ich habe Mitleid mit diesen Menschen. Durch die vielen Finger sind sie blossgestellt und sind von allen Seiten eingeschlossen.

Wem gehören all diese Finger? Wieso zeigen sie alle auf diese Menschen? Gehöre ich auch zu ihnen? Mache ich mit, ohne dass ich es will? Wie ist es in meinem Alltag? Spüre ich es, wenn in meiner Umgebung jemand ausgegrenzt wird, oder beachte ich diese Menschen nicht, weil sie für mich keinen Wert haben? Gott hilf uns, dass wir spüren, wenn wir andere ausgrenzen, sie nicht ernst nehmen und ihnen nicht zuhören können. Gott, wir bitten dich, erhöre uns.»

«Alle Mitmenschen wollen uns belehren. Alle wollen uns Vorschriften machen und bestimmen, was für einen armen Menschen gut ist. Wir werden nie gefragt, was uns helfen würde, gleich zu leben wie die anderen. In der Kirche erleben wir oft das Gleiche. Wir werden nicht gefragt. Wir sind auf uns allein gestellt und oft von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Gott, wir leiden darunter, dass wir niemand sind. Wir möchten doch als Mensch leben. Die gleichen Rechte haben wie die anderen. Wir bitten dich darum, dass keine Armen mehr ausgeschlossen werden. Wir bitten dich, dass unsere Familien nicht auseinandergerissen werden. Wir bitten dich auch besonders für die Fremden, die ihr Land verlassen mussten. Gib ihnen Kraft und Mut. Und dass sie später wieder einmal in ihre Heimat zurückkehren können. Gott, wir bitten dich, erhöre uns.»

Eine Familienbewegung, die von den Ärmsten ausgeht

In meinen Lesejahr-Beiträgen habe ich jeweils versucht, die biblischen Texte in Hinblick auf eine aktuelle Situation zu befragen. Dabei habe ich mich an der biblischen Hermeneutik von Joseph Wresinski orientiert. Dieser hat als katholischer Priester mit Menschen, die in der Gesellschaft und auch in der Kirche als unwürdige Eltern galten, eine Familienbewegung für Menschenrechte und Frieden gegründet. In diesem letzten Beitrag, zum Fest der Heiligen Familie, soll er selber ausführlich zu Wort kommen. In einem Vortrag, den er kurz vor seinem Tod, 1988, geschrieben hat, situiert er die Familie Jesu als eine arme «Familie, die sich ständig an den Ärmsten ihrer Zeit orientiert» und in dieser Haltung «ein Vorbild für alle Familien sein»2 kann.

Familie als Trägerin einer Liebesbotschaft

«In der Nachfolge der Familie Jesu hat jede Familie der Welt eine Liebesbotschaft zu vermitteln. Jedes Kind, ob arm oder reich, trägt die Zukunft in sich. Jedes Kind und jede Familie ist für ihre Umgebung und für die ganze Menschheit von unschätzbarer Bedeutung. Unsere Gesellschaft versteht das leider nicht immer. Würde sie sich sonst so dafür einsetzen, dass allzu arme Frauen keine Kinder haben?

Mit ihrer Botschaft kommen Maria und Josef in den Tempel, um ihr Kind Gott zu übergeben. Simeon, der fromme Greis, und Hanna, die Prophetin, stehen einem armen Kind gegenüber, dessen Eltern bloss zwei Tauben opfern können. Auch ihnen öffnet Gott die Augen und lässt sie das Geschehen aus seiner eigenen Sicht betrachten. Simeon und Hanna sind Menschen voller Hoffnung. Sie vertrauen ganz auf Gott. Sie warten beide auf eine neue Welt. Und so haben sie die Worte von Josef und Maria nicht nötig. Sie sehen und glauben.

Wenn ich an Maria denke, dann kommt mir die junge Haitianerin Carole in den Sinn. Ohne ein Wort nahm sie mich bei der Hand und führte mich in ihre kleine Behausung in einem Elendsviertel von Port-au-Prince. Dort wohnte sie zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Sie wollte mir ihr neugeborenes Kind zeigen. Dieses lag wie ein kleiner Prinz gekleidet auf dem Bett, während seine Mutter im zerrissenen Kleid danebenstand. Ich fragte mich, wie Carole das wohl geschafft hatte. Sie strahlte voll Zärtlichkeit und Hoffnung, genauso wie wohl auch Maria im Tempel gestrahlt hat, arm, aber glücklich, dass ihr Kind geachtet wurde.

Das Geheimnis des Glaubens von Simeon und Hanna liegt darin, dass Maria und Josef nichts als ein armes Kind vorzuweisen haben und dass dieses Kind mehr wert ist als Gold, als alle Weisheit und Macht der Erde. Simeon und Hanna wissen wohl, wie böse die Welt zu den Kindern ist, vor allem, wenn diese als Heilsboten erkannt werden. Simeon ahnt voraus, dass dieses Kind es schwer haben wird, wenn es den Auftrag, den Gott ihm gibt, ausführt. Er weiss, dass die Armut dieses Kindes für all jene ein Skandal sein wird, welche einen mächtigen und glorreichen Messias erwarten. Simeon ahnt, dass Jesus untergehen wird und dass der Schmerz das Herz seiner Mutter durchbohren wird.»3

Freude und Schmerz

Der Schmerz, der Marias Leben durchzieht, löscht die Freude der Begegnung im Tempel nicht aus. Gibt es solche Freude auch im Leben der Schmerzensmütter von heute? Ich denke an Claudia, deren Sohn seit seiner Geburt gegen ihren Willen in einer Pflegefamilie untergebracht ist. Sie selbst darf ihn nur in Begleitung sehen. Kürzlich hat dieser Sohn seine Mutter mit den Pflegeeltern zu einem Kindergartenfest eingeladen. Danach schrieb mir Claudia folgende Textnachricht: «Sein Papa war auch da, und er holte einen Freund und sagte dem: ‹Das sind meine Eltern.› Es war super toll.»

1 Der Holzschnitt ist im Rahmen von Kreativateliers der Bewegung ATD Vierte Welt unter der Leitung von François Jomini und Noldi Christen 1989–1991 in Treyvaux entstanden. Frauen und Männer, die bittere Armut aus eigener Erfahrung kennen, und andere, die sich mit ihnen zusammen für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden einsetzen, haben gemeinsam daran gearbeitet. Quelle: Joseph Wresinski, Die Armen sind die Kirche, Zürich 1998, S.185.

2 Joseph Wresinski, Armut – eine Herausforderung für jede Familie, Freiburg 1995, S. 14 f.

3 Ebd., S. 42–44.

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Dr. theol. Marie-Rose Blunschi Ackermann ist Mitarbeiterin der Bewegung ATD Vierte Welt in deren Schweizer Zentrum in Treyvaux.