Kirchenräume – offen für Liturgie und mehr

Innenräume von Kirchen prägen gottesdienstliches Handeln. Deren Ausrichtung und Einrichtung bleibt für ihre ursprüngliche und künftige Nutzung bestimmend.

Kirchenräume werden vielerorts nicht mehr ausschliesslich liturgisch genutzt. Dies zeigt auch «Der MaiHof» am Standort der Maihofkirche in Luzern. Im transformierten Innenraum findet sich ein Kirchensaal. Darin werden neben Konzerten, Kongressen und Ausstellungen weiterhin Gottesdienste gefeiert. Auch auf diesen Innenbezirk1 trifft zu, was Albert Gerhards dargelegt hat, dass sich jeder architektonische (Kirchen-)Raum verschieden auf die Feier der jeweiligen Liturgie auswirkt.2

WEG und KREIS

Nun umschrieb Karl-Heinrich Bieritz die Ausrichtung von Kirchen-Räumen zwischen Kreis und Weg.3 In beiden Formen wird liturgisches Handeln vollzogen. Es lohnt sich ein Vergleich einzelner Kirchenbauten im Raum Luzern, wo der Richtungs- Raum (Weg) weiterhin starken Einfluss auf die Liturgiefeiern hat. Einblicke lohnen sich vorab in die vor einer Neunutzung stehende Kirche St. Josef in Perlen, im Kontrast dazu in die nahe gelegene Neue Kirche St. Agatha Buchrain und die Matthäuskirche Luzern (evang.-ref.) sowie die Piuskirche Meggen. Alle zeigen unterschiedlich gestaltete Innenräume.

Josef der Arbeiter in Perlen ist als Langhausbau zentrifugal orientiert. Der Raum richtet sich aus auf das Chorwand-Bild, vor welchem seit 1938 der «Opferaltar» für das Opfermahl «in Funktion» war und seit der Liturgiereform einen Altartisch für die Feier der Eucharistie erhalten hat. Geplant ist die Übergabe der Kirche an eine serbisch-orthodoxe Gemeinde, die den Innenraum mit Ikonen ausgestalten wird.

Ebenfalls zentrifugal ausgerichtet ist der Innenraum der Piuskirche in Meggen mit starker «Offenheit» im Raumkonzept. Hier spielt sich die so genannt orientierte Versammlung ab.4 Die in reiner Quaderform gehaltene Kirche birgt einen Innenraum, «in sich symmetrisch, jedoch ist die Symmetrieachse nicht begehbar», die «Wegführung» dazu «parallel», «die Blickrichtung zum Altar immer diagonal». Insgesamt wirkt der Raum «nicht einengend, sondern befreiend». Hier wurden die Prinzipien der Raum- und Wegkirche (Rudolf Schwarz) vereint und die Konzentration der Gläubigen um den Altarraum ohne radiale Anordnung möglich.4

Auch in der Matthäuskirche in Luzern führt kein Mittelgang durch Stuhlreihen hindurch. Die Versammlung der Feiernden wirkt dadurch sehr kompakt. Dies ist für grosses Singen in Gemeinschaft, wie dies der evangelisch-reformierte Gottesdienst von jeher kennt, sehr dienlich. Sie richtet sich hier als hörende und singende Gemeinde zum Abendmahlstisch und zur Predigtkanzel hin aus.

Der Zugang zur Neuen Kirche St. Agatha Buchrain geht unter dem Glockenturm durch den Haupteingang in eine leichte Linkskurve, bevor er sich auf einen arena-artigen Raum einlässt. Wenig Gewöhnte überrascht die zentripetale Ausrichtung, welche Bewegungen in den Halbkreis einer Versammlung ermöglicht. Die Stuhlreihen stehen halbkreisförmig zur Mitte hin. Dort befindet sich der bewegliche Altartisch. Undeutlich bleibt bei der gewählten Anordnung der frei beweglichen Stühle, ob diese dem genius loci entspricht. Die Grundrisse des Architekten Ernst Studer sahen clusterartige Anordnungen der Stuhlreihen mit mehr als einem Weg zur Mitte hin vor. Der Raum ermöglicht stilles Verweilen und das Mitfeiern von Liturgien. Liturgisches Tun kann sich hier optimal nach den Kriterien der jüngsten Liturgiereform entfalten.

Entfaltungsraum

Wird über angemessene Konzepte in älteren Langhauskirchen diskutiert, lassen sich Lösungen nicht unmittelbar finden. Umso mehr helfen Einschätzungen aus Sicht des Weg- und Kreiskonzepts, liturgischen Versammlungen im kleineren Kreis mehr Gewicht zu geben. Bietet der Raum den Versammelten die Möglichkeit, sich als «circumstantes» zu verstehen, nicht nur als Zuschauende oder Herumstehende, sondern als Personen und Gruppen, welche sich am liturgischen Geschehen beteiligen, kommt man nicht darum herum, nach flexiblen Lösungen zu suchen. Das gemeinsame liturgische Handeln braucht eine dynamische Entfaltung und vollzieht sich in verschiedenen Bereichen: beim Feiern der Tauferinnerung mehr bezogen auf den Ort des Taufsteins, beim liturgischen Tanz im dafür offen gelassenen Bereich wie auch für unterstützenden Gesang einer Chorgruppe, die sich sinnvollerweise nicht auf eine Empore als vielmehr in die unmittelbare Nähe der Versammlung begibt.

Wesentlich ist ein Konzept, das die genannten Bereiche nicht verstellt. Die Versammelten sollen nach Herbert Muck nicht «nur mehr Zuschauer» der «vom Liturgen vorgeführten Orientierungen»6 sein. Es ist der «nicht verstellte Bereich inmitten der Versammlung», der «szenische Darstellung durch Gruppen, damit das Hören durch das Sehen bereiter, die Anordnung durch die Bewegung lebendiger und die Anwesenheit durch die artikulierte Beteiligung von Gruppen» und «spürbare Teilnahme» ermöglicht. Wichtig ist eine polyzentrische Ereignisstruktur. Diese wird «durch die Totalzentrierung auf den Altar als den einzigen Mittelpunkt zunichte (…). In Christus sind wir nun Hausgenossen Gottes. Das ist das ausschlaggebende Gestaltprinzip. Und jetzt kommt auch die Handlungsfähigkeit zur Darstellung. Lassen wir’s nicht zu, dass sie uns blockiert wird. Freiheit und Handlungsfähigkeit sind das aktuelle Christusbild, das wir uns heute vorstellen und zu dem wir uns gegenseitig helfen können.» Alle Orte im Raum brauchen ihre offene Umgebung, wo flexibel agiert werden kann. Dies markiert das Beispiel der Gemeinde Maria Geburt in Aschaffenburg (maria-geburt.de/), wo der heute unverstellte Kirchenraum überzeugt und mit einem bald 20-jährigen Wandel des Gemeindelebens verbunden ist.

Die Einrichtung kirchlicher Innenräume sollte mit ihrem ersten Zweck vereinbar sein, die Begegnung mit Gottes unverfügbarem Geheimnis offenzuhalten. Daraus empfangen Menschen ihre spirituellen und religiösen Impulse. Das Atemschöpfen in solchen Räumen wird befreiter sein. Darum ist oft «die Klärung des Raums durch Entrümpelung und durch Reduzierung des Gestühls der erste, manchmal schon der entscheidende Schritt für eine neue Wahrnehmung und Wertschätzung. Kirchenräume sollen nicht gemütlich sein, sie sollen vielmehr erheben und so dem Humanum dienen. Wenn ein solcher Raum (…) wieder zu sich selbst kommt, dann ist er auch – architektonische Qualität vorausgesetzt – für die heutige Liturgie geeignet. Diese darf freilich nicht geistlos nach der Schablone persolviert werden.»7

Sakralität der Leere

Darum bedürfen Kirchenräume periodischer Überprüfung. Immer geht es darin um «letzte Erlebnisse»8. Ihnen Raum geben, verlangt nach Friedhelm Mennekes eine eigentliche «Sakralität der Leere».9 Mennekes verwies auf Hermann Schmitz10, der Wert legt auf «Atmosphären (…) als unbestimmt in die Weite ergossene Gefühle (…), welche als ergreifende Mächte erfahren werden». Deshalb werde der sakrale Raum seit gut 200 Jahren zunehmend als eine ästhetische Kategorie begriffen. «Die Teilnahme daran wurde als das Erleben einer Raumatmosphäre angesehen. Bis heute versucht man, Stimmungswerte, die mit spezifischen Erinnerungen verbunden sind, als sakral einzusetzen. Doch ist eine solche Ineinssetzung problematisch. Das Wort sakral ist nichts Objektives, sondern lediglich die vage Umschreibung einer Raumatmosphäre. Sie kann allenfalls eine Unterstützung für das leisten, was vom Glaubensvollzug der feiernden Gemeinschaft her sakral verstanden wird. Daher kommt es entschieden auf die Fragerichtung und die Gestimmtheit des Besuchers eines solchen Raumes an. Zunächst ist jeder Kirchenraum – voll oder leer – ein Bild. Es baut sich auf aus der architektonischen Form des Raumes selbst, seiner Einrichtung und den Lichtverhältnissen.»

Das Anliegen Kirchen weithin «leer» zu räumen, meint jedoch nicht, deren Charakter zu verleugnen. Wer eine Kirche betritt, will «zur Ruhe kommen können. Seine Stimmungen sollten ausschwingen und dann zunächst von der Atmosphäre des Raums aufgefangen werden». Der sakrale Raum wird «von vielen suchenden Menschen nicht so sehr als ein Ort der Antworten begriffen, sondern als ein energiegeladener Raum für Suchen und Fragen. Er soll dem Menschen die Kraft erwirken, seinen Glauben selbst zu wecken, zweifelnd und fragend, skeptisch und hörend.» Es geht um die «pastoral begründete Akzentverlagerung von einer fides quae zu einer fides qua, von einer inhaltlichen Orientierung des Glaubens als Credo auf die vitale Sorge um einen regen und kreativen Glauben als Form und Praxis.»

Umnutzungen pastoral orientieren

Nicht zuletzt sind pastorale Kriterien wesentlich, um zu angemessenen Entscheidungen zu gelangen. Darum plädiert Rainer Bucher11 für pastoral orientierte Konzepte der Umnutzung (vor Verkauf!) und sieht Kirchen als «herausragende potenzielle Orte selbstloser Pastoral für alle», denn wie die Kirchen mit diesen «scheinbar nutzlosen» Räumen umgehen, «wird ein Indiz dafür sein, woran sie glauben».

1 Vgl. Johannes Stückelberger: Der Blick aufs Ganze. Kirchenumnutzungen als Thema des Ersten Schweizer Kirchenbautages 2015, Gottesdienst 50 (2016) 9–11, 10 Abb. des Saales.

2 Albert Gerhards: Blickt nach Osten! Die Ausrichtung von Priester und Gemeinde bei der Eucharistie – eine kritische Reflexion nachkonziliarer Liturgiereform vor dem Hintergrund der Geschichte des Kirchenbaus, in: Liturgia et Unitas, hrsg. v. M. Klöckener u. A. Join-Lambert. Freiburg Schweiz, Genève 2001, 197–217. Vgl. Festschrift für A. Gerhards hrsg. v. K. de Wildt, B. Kranemann, A. Odenthal: Zwischen-Raum Gottesdienst, Stuttgart 2016 (zit. als FG).

3 Karl-Heinrich Bieritz: Zwischen Kreis und Weg: Eucharistische Liturgie im «Evangelischen Gottesdienstbuch». aaO. 110–133.

4 Vgl. J. Krämer: Offener Raum und orientierte Versammlung, in: Gottesdienst 35 (2001) 81–83.

5 So Jürgen Joedicke: Die Kirche in Meggen von Franz Füeg, in: christliche kunstblätter 1/1967: neue schweizer kirchen, 17–20, 17 f., 20.

6 Herbert Muck: Der Raum. Zur Geschichte eines jungen Begriffes, in: Kunst und Kirche (1983) Heft 1 Raum geben, 27–31 Literatur sowie ders. Vorgänge im Raum, ebd. 32 f. Vgl. die Dissertation in Ingenieurwissenschaften von Jae-Lyong Ahn: Altar und Liturgieraum im römisch-katholischen Kirchenraum. Eine bauhistorische Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung der Veränderung des Standorts des Altars nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962– 1965), Aachen 2004 http:// publications.rwth-aachen.de/ record/59685/files/Ahn_Jae- Lyong.pdf. Leider werden darin die Arbeiten von A. Gerhards nicht berücksichtigt.

7 Albert Gerhards: Vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang. Orte für den Gottesdienst – Orte im Gottesdienst, in: FrauenGottesDienste, Modelle u. Materialien, hrsg. von Marie-Louise Langwald u. Isolde Niehüser, Ostfildern 2006, 76–82, 81.

8 K.-H. Bieritz zit. Manfred Josuttis aaO. 132.

9 Friedhelm Mennekes: Zur Sakralität der Leere, in: Kirchenbauten in der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit, hrsg. v. Angelika Nollert u. a., Regensburg 2011, 236-243. Vgl. zur von Mennekes geprägten Weg- Kirche St. Peter Köln Guido Schlimbach: Den Zwischen- Raum umspielen, in: FG (Anm. 2) 235–250.

10 Mennekes verwies auf Hermann Schmitz: System der Philosophie, 3. Band: Der Raum, 4. Teil: Das Göttliche und der Raum, 2. Aufl., Bonn (Bouvier) 1995, 283.

11 Rainer Bucher: Unaufdringliche Antreffbarkeit. Ein Plädoyer für kreative und multiple pastorale Kirchenraumnutzung, ThPQ 165 (2017) 115-122, 121/122.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)