SKZ: Frau Vorburger-Bossart, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der hl. Wiborada. Wer war Wiborada?
Esther Vorburger-Bossart: Wiborada wurde als erste Frau überhaupt 1047 heiliggesprochen. Wiborada lebte als «Inklusin» in einer Zelle bei der Kirche St. Mangen, war aber durch ein Fenster mit der Aussenwelt verbunden, wo sie täglich Ratsuchende beriet. Sie wurde weiter bekannt durch Brot- und Weinsegnungen sowie durch ihr tägliches Psalmengebet. Auch die Mönche des Klosters St. Gallen kamen regelmässig vorbei. Dank diesem Kontakt und den Visionen der Heiligen wurden der Klosterschatz und die Stiftsbibliothek beim Einfall der Ungaren gerettet – Wiborada, die ihre Klause nicht verlassen wollte, wurde dort von den eindringenden Horden getötet.
Welche Rolle spielte die hl. Wiborada für die Katholikinnen und Katholiken in der Ostschweiz?
Die hl. Wiborada spielt bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung oder in der kirchlichen Verehrung keine zentrale Rolle. Der Fokus liegt hier auf dem Leben des hl. Gallus, der als Schutzpatron von Stadt und Bistum alljährlich an seinem Todestag am 16. Oktober mit einem Pontifikalamt in der Kathedrale und mit einer städtischen Feier verehrt wird. Auch fungiert der hl. Gallus bis in die Gegenwart hinein als Namensgeber von kirchlichen und kommerziellen Institutionen in der Region St. Gallen. Im katholischen Vereinsleben taucht die hl. Wiborada in den bedeutenden Frauenvereinen mit mitgliederreichen sanktgallischen Sektionen wie dem «Katholische Frauenbund», den «Katholischen Lehrerinnen» oder den «Katholischen Pfarrhaushälterinnen» auch nicht in Ansätzen auf. Dies zeigt sich weiter an offiziellen Anlässen wie den beiden letzten Bistumsjubiläen von 1947 (100 Jahre) und 1997 (150 Jahre), wo Wiborada in den Jubiläumsschriften oder -aktivitäten kaum rezipiert wurde. Auch das Jubiläum zu Wiboradas 1000-jährigem Todestag von 1926 wurde im Bistum von offizieller Seite her wenig beachtet.
Weshalb geriet die hl. Wiborada in Vergessenheit, obwohl sie eine Märtyrerin war?
Bis Ende des 20. Jahrhunderts ist die Wiborada-Rezeption im Bistum St. Gallen vor allem in der wissenschaftlichen Beschäftigung, aber nicht in der breiteren Volksverehrung spürbar. Die Hauptursache für ihre mangelnde Verehrung dürfte der Umstand sein, dass ihre Gebeine nach dem Bildersturm nicht mehr erhalten sind – bis auf wenige Überreste in der spätgotischen Wiborada-Büste im Kloster Glattburg, die heute noch als Reliquien verehrt werden. Damit wurde der Wiborada-Kult für Jahrhunderte ausgelöscht. Verehrung aber braucht etwas Handfestes. Die Unterdrückung des weiteren Kults bei ihrem Grab in der Kirche St. Mangen in der Stadt St. Gallen war wohl der Hauptgrund, dass die hl. Wiborada in Vergessenheit geriet. Bis zur Reformation sah das anders aus. Der Frauenname «Wiborada» oder «Wyberta» war in St. Gallen noch gängig. Ein weiterer Grund, weshalb Wiborada innerkirchlich über Jahrhunderte nicht wahrgenommen wurde, dürfte mit der zunehmend politischen und weltlichen Ausrichtung des Klosters St. Gallen ab dem 17. Jahrhundert zusammenhängen. Die Verehrung lokaler Heiliger ging damit auf ein Minimum zurück. Dies galt besonders für jene von Wiborada, obwohl ihr Todestag am 2. Mai in den Kalendarien und Anniversarien der Abtei St. Gallen erwähnt wurde. Selbst in den damaligen Frauenklöstern war Wiborada unbekannt. So entstand über Jahrhunderte eine Erinnerungslücke.
Im Mai wird ein Sammelband zur hl. Wiborada erscheinen.1 Was war das Ziel dieses Sammelbandes?
Im Rahmen der Neuentdeckung Wiboradas mit dem Projekt «Wiborada2021» wollen die Herausgeberinnen und Herausgeber des Sammelbandes Perspektiven von unterschiedlichen Disziplinen und Erfahrungen zusammenbringen und so ein Stück Religionsgeschichte der Schweiz sichtbar machen.
Interview: Maria Hässig