2022 jährt sich zum hundertfünfundsiebzigsten Mal die Errichtung des Bistums St. Gallen als selbstständige Diözese. Der Weg dahin war lang und konfliktreich. Zu verstehen ist er vor dem Hintergrund der politischen und kirchlichen Entwicklungen zu Beginn und im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts.1
Zur Ausgangslage
Das Gebiet des heutigen Kantons St. Gallen, der 1803 durch die Mediationsakte Napoleons geschaffen wurde, gehörte seit der Christianisierung kirchlich zu den Diözesen Konstanz und Chur. Eine besondere Stellung kam der Fürstabtei St. Gallen zu, deren Abt seit 1613 quasibischöfliche Rechte ausübte, während der Bischof von Konstanz die nominelle Oberaufsicht behielt. Die Helvetische Revolution von 1798 brachte das Ende der Fürstabtei in ihrer doppelten Eigenschaft als Benediktinerkloster und geistliches Fürstentum. Weil der letzte Fürstabt Pankraz Vorster auf die Landeshoheit nicht verzichten wollte, betrieb Karl Müller-Friedberg, einst Beamter der Fürstabtei, jetzt erster Landammann des jungen Kantons, die Aufhebung des Klosters. 1805 verfügte der Grosse Rat des Kantons St. Gallen unter Missachtung der Mediationsverfassung, welche die Wiederherstellung der Klöster in der Schweiz vorsah, aber mit Zustimmung Napoleons, die Säkularisation der Abtei. Nach Abschluss der Vermögensausscheidung errichtete die Kantonsregierung 1813 den Katholischen Administrationsrat des Kantons St. Gallen, eine weltliche konfessionelle Behörde, und übertrug ihr die Verwaltung und Leitung aller katholischen Fonds und Institutionen im Kanton, einschliesslich der Stiftskirche und der Stiftsbibliothek. Mit der Kantonsverfassung von 1814 und der Schaffung eines sogenannten Katholischen beziehungsweise Evangelischen Konfessionsteils kam die Bildung von kantonal-konfessionellen Organisationen mit autonomer Selbstverwaltung unter der Oberaufsicht des Staates zum Abschluss. Als Legislative wirkten die katholischen Mitglieder des Grossen Rates. Vor dem Hintergrund der weltanschaulichen Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen waren die Entscheidungen des Katholischen Konfessionsteils häufig politisch motiviert, was sich auch auf die Errichtung des Bistums St. Gallen auswirkte. Eine Entflechtung von Politik und Kirchenangelegenheiten brachte erst die Kantonsverfassung von 1861. An die Stelle des Katholischen Grossratskollegiums trat 1862 das Katholische Kollegium mit seinen von den stimmberechtigen Katholiken (seit 1970 auch Katholikinnen) des Kantons St. Gallen frei gewählten Vertreterinnen und Vertretern.
Das Doppelbistum Chur-St. Gallen
Ab der Kantonsgründung 1803 strebte die Regierung des Kantons St. Gallen danach, für die mehrheitlich katholische Bevölkerung ein Kantonalbistum zu errichten, das zur kirchlichen und politischen Konsolidierung des heterogenen Kantons beitragen sollte. Nach der Abtrennung der schweizerischen Teile vom Bistum Konstanz 1815 lehnte diese die 1816 diskutierte Idee eines schweizerischen Nationalbistums, welches das ganze ehedem zur Diözese Konstanz gehörende schweizerische Gebiet umfasst hätte, als den eigenen Staatsinteressen zuwiderlaufend ab. Verschiedene Bistumsprojekte, darunter ein Regularbistum mit einem Abtbischof an der Spitze, fanden keine Zustimmung. Dieser Sachverhalt bewog Papst Pius VII., einen Vorschlag des Luzerner Nuntius aufgreifend, mit der Bulle Ecclesias quae antiquitate vom 2. Juli 1823 das Doppelbistum Chur-St. Gallen zu errichten. Es bestand aus zwei selbstständigen Diözesen mit je eigener bischöflicher Kurie und eigenem Domkapitel. Der jeweilige Bischof sollte in Personalunion die beiden Bistümer leiten, den Titel eines Bischofs von Chur und St. Gallen tragen und abwechselnd je ein halbes Jahr in Chur und St. Gallen residieren. St. Gallen wurde Bischofssitz, die bisherige Abteikirche bischöfliche Kathedrale. Zugleich umschrieb die Bulle die Diözese St. Gallen, die mit den Kantonalgrenzen übereinstimmte.
Sie umfasste das Territorium der ehemaligen Fürstabtei, ausserdem die bis 1815 zum Bistum Konstanz gehörenden Kantonsgebiete, nämlich die Region Rapperswil-Jona am oberen Zürichsee und die beiden rheintalischen Gemeinden Thal und Widnau sowie die bisher zum Bistum Chur gehörenden Kantonsgebiete Gaster und Sargans sowie das oberrheintalische Rüthi und das werdenbergische Gams.
Das Doppelbistum war eine Fehlentscheidung. Es stiess in Graubünden wie in St. Gallen auf Ablehnung. Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem autoritär regierenden Churer Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein auf der einen und dem staatskirchenrechtlich agierenden Katholischen Administrationsrat sowie dem reformorientierten Teil des St. Galler Klerus auf der anderen Seite führten zu Polarisierung und Entfremdung. Nach dem Tod des Bischofs 1833 erklärte das mehrheitlich liberal zusammengesetzte katholische Grossratskollegium das Doppelbistum einseitig als aufgehoben. Als Papst Gregor XVI. dennoch den bündnerischen Kapitularvikar Johann Georg Bossi zum Bischof von Chur und St. Gallen ernannte, verweigerten die Kantonsregierung und der Katholische Konfessionsteil ihm die Anerkennung. Da sich keine einvernehmliche Lösung finden liess, verfügte Gregor XVI. 1836 auf Bitten des inzwischen durch Neuwahl mehrheitlich konservativ gewordenen Administrationsrats die Trennung von Chur und ernannte in Johann Peter Mirer einen Apostolischen Vikar (1836–1846) für den Kanton St. Gallen, während Bossi Bischof von Chur blieb.
Die Errichtung des Bistums St. Gallen
Die Regelung der Bistumsfrage wurde 1838 durch die Aufhebung der Abtei Pfäfers noch einmal verzögert. 1839 trat der Katholische Administrationsrat wieder in Verhandlungen mit Rom und brachte diese 1845 mit dem Konkordat über die Reorganisation des Bistums St. Gallen zum Abschluss. Der Pontifikatswechsel und der von Rom nicht akzeptierte Vorbehalt, dass die Kantonsregierung jede Bischofswahl vor der päpstlichen Bestätigung zu genehmigen habe, verzögerten die päpstliche Zustimmung. Am 8. April 1847 errichtete Papst Pius IX. schliesslich mit der Bulle Instabilis rerum humanarum natura die selbstständige Diözese St. Gallen. Am 29. Juni 1847 fand hierauf die Errichtung des Bistums St. Gallen mit der Weihe des Apostolischen Vikars Mirer zum ersten Bischof seinen glücklichen Abschluss.
Domkapitel und Bischofswahl
Das Domkapitel setzt sich aus fünf residierenden und acht nicht residierenden Domherren zusammen. Die Ernennung der Domherren steht nach einem in der päpstlichen Bulle festgelegten Verteilschlüssel dem amtierenden Bischof und dem Katholischen Administrationsrat zu. Die einzige höhere geistliche Würde ist der Domdekan. Das Domkapitel besitzt das Recht der freien Bischofswahl, das auf Intervention des Heiligen Stuhls seit der Bischofswahl 1938 insofern eingeschränkt wurde, als das Domkapitel seither für seine Wahlliste mit sechs Kandidaten vor dem eigentlichen Wahlakt die päpstliche Zustimmung einholen muss. Und seit der Bischofswahl von 1995 darf der Name des Gewählten erst nach der päpstlichen Bestätigung der Wahl bekanntgegeben werden.2
Das Appenzellerland unter dem Bischof von St. Gallen
1866 löste Pius IX. auf Initiative des St. Galler Bischofs Carl Johann Greith die beiden vom Kanton St. Gallen umschlossenen Halbkantone Appenzell-Innerrhoden und Appenzell-Ausserrhoden von der provisorischen Administration des Bischofs von Chur (seit 1819) und unterstellte sie der Administration des Bischofs von St. Gallen. Die Zuteilung erfolgte aus historischen, geografischen und seelsorgerlichen Gründen. Denn mit der Niederlassungsfreiheit, welche die Bundesverfassung von 1848 gewährte, begann aufgrund der Industrialisierung in den bisher strikt konfessionell getrennten Appenzeller Halbkantonen eine konfessionelle Durchmischung der Bevölkerung. In Ausserrhoden entstanden katholische Diasporapfarreien. Diese wurden von Innerrhoder, zum grösseren Teil aber von den umliegenden sanktgallischen Nachbarpfarreien betreut. Bischof Greith ging es darüber hinaus auch um die langfristige Existenzsicherung des Bistums, weshalb er vom Papst auch die Eingliederung des Kantons Zürich in das Bistum St. Gallen erbeten hatte – ein weitsichtiger Plan, dessen Ausführung im Unterschied zu den beiden Halbkantonen nicht gelang. Mit deren Zuteilung aber hatte das Bistum seinen heutigen Umfang erreicht.
Franz Xaver Bischof