Die Schöpfung schmecken lernen

In einer satten, vielfach sogar übersatten Gesellschaft ist es keine leichte Aufgabe, Geschmack zu entwickeln und zu bewahren. Und doch spielt ein guter Geschmack für Speisen und Getränke eine zentrale Rolle, wenn wir erfüllt leben wollen.

 

Ein gutes Essen lässt Kummer vergessen. Es führt Menschen an einem Tisch zusammen. Es schenkt Freude in Tagen der Krankheit. Es ist Zeichen von Wertschätzung, Freundschaft und Liebe.

Sich freuen an den Gaben der Schöpfung

Wer Speisen und Getränke aus Krankheits- oder Altersgründen nicht mehr richtig schmecken kann, empfindet das als grossen Verlust. Doch noch grösser ist der Verlust, nie richtig schmecken gelernt zu haben. Wer ein besonderes Gewürz aus einer Speise nicht herausschmeckt, wer die Rebsorten beim Wein nicht erkennt, wer den Unterschied zwischen einem industriell und einem handwerklich gefertigten Brot nicht schmeckt, der merkt den Verlust vielleicht gar nicht und ist doch bedeutend ärmer.
Schliesslich: Wer keinen Geschmack für die irdischen Speisen und Getränke erworben hat, dem fehlt auch der Geschmack für Gott. Denn Gott, der uns im Brot und Wein der Eucharistie begegnet, will geschmeckt werden. Er ist kein Gott der geistig Abgehobenen und Verklärten, sondern ein Gott jener, die Freude an den Gaben seiner Schöpfung haben.

Mit allen Sinnen schmecken

Schmecken können ist das Ergebnis lebenslanger Lernprozesse. Bei der Geburt können Säuglinge nur die Süsse der Muttermilch schmecken. Doch Tag für Tag können wir mehr Geschmacksrichtungen entdecken – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Vier Wege dazu möchte ich nennen:

  • Wer die Zutaten einer Speise kennt, schmeckt mehr. Wer weiss, wo und wie diese Zutaten gewachsen sind, schmeckt noch mehr. Je mehr wir über eine gute Speise wissen, umso mehr können wir sie geniessen.
  • Derjenige schmeckt besser und differenzierter, der alle fünf Sinne auf das Essen richtet: Der den Geruch einer Speise oder eines Getränks aufmerksam wahrnimmt; ihre Farbe und Form genau betrachtet; spürt, wie weich oder hart, mürbe oder zäh sie sich anfühlt; darauf hört, wie es klingt, wenn wir sie im Mund zerkleinern; und schliesslich die Speise auf der Zunge zergehen lässt, um ihren Geschmack voll auszukosten.
  • Das schliesst ein rechtes Mass des Esstempos ein. Langsame Esser essen nicht nur weniger und sind häufiger normalgewichtig, sondern geniessen auch intensiver. Sie kosten Speise und Trank im wörtlichen Sinne aus. Das ist auch eine Frage der Ehrfurcht vor den Speisen und Getränken. Ohne Slow Food ist kein achtsames Essen und Trinken möglich.
  • Wer regelmässig selber kocht, weiss mit der Zeit mehr über das, was er isst, und schult beim Kochen seine Sinneswahrnehmung für die Speisen und ihre Zutaten. Kochen ist eine hervorragende Übung des guten Geschmacks.

Fasten – die Sinne schärfen durch Verzicht

Eine wichtige Methode, unsere Sinne zu schärfen, ist das Fasten, der freiwillige Verzicht auf Nahrung. Fasten soll uns nicht quälen, sondern zu einem dankbareren und aufmerksameren Leben führen. Wer für eine bestimmte Zeit auf etwas verzichtet, lernt es neu schätzen. Nach einem längeren Fasten können wir die Nahrung neu schmecken, riechen, sehen, hören und tasten. Nicht selten sind Fastende am Ende erstaunt, wie gut ihnen der erste Apfel, das erste Glas Wein oder die erste Tasse Kaffee schmeckt. Fasten bietet zudem die Möglichkeit, die eigene Abhängigkeit von der Nahrung intensiver zu spüren. Denn Fastende spüren körperlich sehr unmittelbar, dass sie ihr Fasten nicht auf Dauer weiterführen könnten. Irgendwann brauchen sie wieder Nahrung. Schliesslich ist fasten ein Ausdruck der Solidarität mit denen, die unfreiwillig Hunger und Mangel leiden. Für eine befristete Zeit nehmen Fastende einen vergleichbaren Mangel auf sich und ahnen daher besser, was Hunger und Not sein können. Deswegen die vielen Fasten- essen in Pfarreien, deren Erlös ausdrücklich zur Unterstützung ärmerer Länder gegeben wird.

Fleischabstinenz – einen neuen Geschmack für die Tiere entwickeln

Schon in den ersten Jahrhunderten des Christentums gehörte zum Fasten die Fleischabstinenz dazu. Denn wer Fleisch isst, verspeist ein Tier, ein geliebtes Geschöpf Gottes, das Freude und Schmerz empfinden kann. Das ist nach biblischer Überzeugung zwar nicht verboten, aber doch Beschränkungen unterworfen. Die 40-tägige Fastenzeit war demzufolge in den meisten Jahrhunderten der Kirchengeschichte eine Zeit, in der der Fleischverzehr strikt verboten war. Die Tage vor Beginn der Fastenzeit nannte man «Karneval», wörtlich übersetzt «Fleisch lebe wohl!». Wer den Karneval ausgelassen feiern will, soll danach auch konsequent auf Fleisch verzichten.

Auch am Freitag galt lange ein striktes Fleischverbot. Dass er dann zum Fischtag wurde, hatte damit zu tun, dass man nördlich der Alpen vor allem im Winter zu wenige pflanzliche Lebensmittel zur Verfügung hatte. Auf Fleisch zu verzichten hiess dann hungern. Deswegen beschloss die Kirche im 11. Jahrhundert, den Fisch als Fastenspeise zu genehmigen. Heute hingegen haben wir ganzjährig genügend pflanzliche Lebensmittel zur Verfügung. Wir können also leichten Herzens zur alten Regel zurückkehren, dass der Freitag ein Veggie-Tag ist und die Fastenzeit eine Veggie-Zeit.

In einer satten, ja vielfach sogar übersättigten Gesellschaft ist es keine leichte Aufgabe, einen guten Geschmack zu entwickeln und zu bewahren. Und doch führt für uns Christen kein Weg an dieser Aufgabe vorbei. Denn wer die Gaben Gottes nicht «schmeckt», kann auch Gott selbst nicht schmecken.

Michael Rosenberger*


* Michael Rosenberger ist Professor für Moraltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz.