Die allen Religionen eigene Erfahrung von «Heiligkeit»

In seinem Versuch eines elementaren Aufbaus von Religionsverständnis nennt Hans Joas die Ebene der «Heiligkeit». Deshalb sei nicht Religion, sondern das «Phänomen des Ergriffenwerdens und der Auffüllung von Zeiten, Orten, Personen, Gegenständen Vorstellunggehalten in präreflexiver Weise mit so einer Kraft ein universal anthropologisches Phänomen». Joas nimmt in seinen sieben Schritten Bezug auf William James (1842–1910) und blickt dabei auf die Phänomene der Erfahrung und Selbsttranszendierung, der Einordung derselben unter den Stichworten Heiligung oder Sakralität, deren Artikulation, der Ethisierung der Sakralität und der Macht des Heiligen.

Paul Tillich zur «Qualität dessen, was den Menschen unbedingt angeht»
Fast bedeutsamer erscheint mir, wie dann auf dem Hintergrund des Zivilisationsbruches des Ersten Weltkriegs die Theologie von Paul Tillich (1886-1965) als Basis aller Religionen die Heiligkeits-Erfahrung sah. Tillichs Blick auf die unterschiedlichsten religiösen Erzählweisen fokussierte auf die Erfahrung dessen, was alle «unbedingt angeht», dem «ultimate concern». Näher hin sah Tillich das Heilige als «die Qualität dessen, was den Menschen unbedingt angeht». Denn: «Nur das, was heilig ist, kann den Menschen unbedingt angehen, und nur das, was den Menschen unbedingt angeht, hat die Qualität der Heiligkeit.» Wie sich dies im Verhältnis von Glaube und Religiöser Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus zeigt, erläuterte Stefan S. Jäger 2011 in einer ausführlichen religionshermeneutischen Studie, auf die hier kurz hingewiesen sei.

Gottesdienst als passivisch erfahrene Feier
Paul Tillichs Denken diskutiert zudem Markus Roth 2016 im Interesse einer fundamentalliturgischen Praxistheorie aus der Sicht Evangelischer Gottesdienst-Theologie. Die Lektüre seines Buches unter dem Titel «Die Zuwendung Gottes feiern» lädt ein zu einem Verständnis von Gottesdienst als passivisch erfahrener Feier. Es war auf dem gesellschaftlichen Hintergrund vermehrter Abwendung von institutionellen Engführungen des Glaubensaktes nur konsequent, dass Tillich eine «wachsende Selbst-Transzendierung» wichtig wurde. Diese führe zur «Partizipation am Heiligen». Wobei dies lt. Roth über ein «Andachtsleben oder Gebetsleben» hinaus gehe, indem sogar die Teilnahme am Gottesdienst der Gemeinde abgelehnt und Gebet der Meditation untergeordnet werde. Deshalb rückte Tillich den Begriff «Heiligung» näher zur «unio mystica»: «Es gibt keinen Glauben …, wenn nicht der göttliche Geist das personale Zentrum dessen, der im Glauben steht, ergriffen hat. Gerade das aber ist die mystische Erfahrung, nämlich die Erfahrung der Gegenwart des Ewigen im Zeitlichen. Als ekstatische Erfahrung ist der Glaube mystisch». Roth vermerkt an dieser Stelle, dass Tillich der ungeklärten Beziehung zur Mystik im Protestantismus die Schuld dafür gab, dass die östliche Mystik für Christen so interessant sei: «Die Tatsache, dass der Protestantismus seine Beziehung zur Mystik nicht verstanden hat, hat Einzelne darin bestärkt, das Christentum als ganzes zugunsten der östlichen Mystik aufzugeben, vor allem für den Zen-Buddhismus».

Glaube als Ergriffensein
Folgerichtig begegnet einem bei Tillich – hier Roth weiter – ein «weites Gottesdienst-Verständnis. Alles kann zur Offenbarung werden, die kirchliche Feier ist nur eine von vielen Möglichkeiten, in den sich der göttliche Geist dem menschlichen Geist erschliesst». Erneut geht es um das «Ergriffensein, das sich nicht auf einen Ort beschränken lässt». Und so finden wir «einen Tempel neben einem Rathaus, das Abendmahl des Herrn neben einem täglichen Abendessen, das Gebet neben der Arbeit, Meditation neben der Forschung, caritas neben eros.» Im Gottesdienst selbst geht es «um ein Empfangen und Antworten … um das Empfangen der Botschaft, von Gott angenommen zu sein. Dies ist aber gerade nicht das Empfangen eines intellektuellen Urteils. Wie die Religion, so darf der Gottesdienst nicht auf Kultur oder Moral verkürzt werden. Der Gottesdienst der Kirche darf weder die Moral noch die intellektuelle Erkenntnis als Ziel haben, sondern ein Geöffnetwerden, ein Ergriffensein, ein Über-sich-hinaus-geführt-werden. Ekstatisches Sein wäre das Ziel eines Gottesdienstes – als Geschenk, nicht als Methode. Ziel des Gottesdienstes wäre der Glaube als Ergriffensein, durch das, was den Menschen unbedingt angeht. Dabei ist der Glaube ja weder Intellekt, noch Wille, noch Gefühl, sondern er umfasst nach Tillich alle drei Geistesfunktionen, eint sie und unterwirft sich der umwandelnden Macht des göttlichen Geistes.» In diesem Zustand des «Geöffnetwerdens durch den göttlichen Geist» sei der Mensch «ganz passiv» – was strukturanalog ebenso im Shin-Buddhismus zu beobachten ist als passive Einstellung auf Amidas Urgelübde der Anderen Kraft, in welcher die letzte Wirklichkeit sich manifestiert, «um das menschliche Herz (kokoro) zu erreichen und kommunizierbar zu werden …» (Stefan S. Jäger)

Tillich bleibt aktuell
Diesen passiven Charakter im Vollzug einer Feier des Glaubens, der für sich genommen eine weitere Grenzsituation benennt, gilt es mit Markus Roth zu beachten. Ja, mit Blick auf die Missbrauchsstrukturen in den Religionen ist die Einordung durch Tillich überzeitlich aktuell: «Es ist eine uralte Erfahrung aller Religionen, dass die Frage nach etwas, das sie transzendiert, durch erschütternde und umwandelnde Erfahrungen der Offenbarung und der Erlösung eine Antwort erhält, dass aber unter den Bedingungen der Existenz sogar das absolut Grosse – die göttliche Selbst-Manifestation in der Religion – nicht nur gross, sondern auch unwürdig, nicht nur göttlich, sondern auch dämonisch werden kann.» In derartiger Zweideutigkeit befindet sich der Gottesdienst «auf der Grenze … zwischen reiner Sondersphäre, die als Gefahr die Dämonisierung in sich trägt, und der Profanisierung; auf der Grenze zwischen Protest und Selbstzweck». Tillich ist darum kirchen-, gottesdienst- und religionskritisch zugleich, wenn er ausdrücklich festhält: «Die Frage heisst: Radikales Sichstellenlassen in die Grenzsituation oder Sicherung gegen unbedingte Bedrohung durch Kirche und Sakrament.» Alles müsse die Kirche weglassen, was die Schärfe der Grenzsituation abschwächt: «das Sakrament, das magisch wirkt, also an der letzten Bedrohung vorbei zum wahren Sein führt; die Mystik, die an der unbedingten Drohung vorbei zum wahren Sein führen soll; das Priestertum, das eine Sicherung vermitteln soll, die nicht mehr der Unsicherheit der menschlichen Existenz unterworfen ist; die kirchliche Autorität, die eine Wahrheit besitzen soll, die nicht mehr unter der Drohung des Irrtums steht; der Kultus, der eine rauschhafte Erfüllung gibt und hinwegtäuscht über die Unerfülltheit der letzten Forderung gegenüber.» Man ist als katholischer Leser dieser warnenden Zeilen aufgerufen zu eigener Selbstkritik gegenüber der eigenen Gottesdienstpraxis, die sich zu wenig der Kraft aus Gottes Geist aussetzt, geschwätzig wird und mit Blick auf das Gottes- und Menschenbild vielfach dogmatischem Perfektionismus frönt – statt der Gebrochenheit menschlicher Existenz aller am Gottesdienst Teilnehmenden den Freiheitsraum zu lassen, der ihr seit Beginn der Schöpfungs- und Unheilsgeschichte mitgegeben ist.

Stephan Schmid-Keiser, per E-Mail