Goldene Fenster zur Frömmigkeitsgeschichte

Das Gewölbe, die Ausmalung sowie die Exponate machen diese Schatzkammer einzigartig in der Schweiz. Eine Führung durch den Luzerner Stiftsschatz.1

Anna Maria Barbara Abesch, Die Dreifaltigkeit, Hinterglasbild 1741 (Bilder: zvg)

 

«Coelestis Urbs Jerusalem» lese ich über der Tür und trete ein. Ich befinde mich in der Stiftsschatzkammer der Hofkirche Luzern. Der Raum ist dunkel. Drei Kerzen brennen. «Coelestis Urbs Jerusalem» – der Hymnus wird seit dem 7./8. Jahrhundert anlässlich der Einweihung christlicher Kirchen gesungen. Eine Ahnung der himmlischen Stadt Jerusalem soll auch der Kirchenschatz vermitteln. So wollte es der Luzerner Kunstmaler und Restaurator Alfred Schmidiger und schrieb diesen frühchristlichen Hymnus über der Eingangstür auf die Wand. Er bekam 1931 den Auftrag, die Stiftsschatzkammer künstlerisch neu zu gestalten. Der Konservator und Kirchenschatzführer Urs-Beat Frei vermutet, dass sich Schmidiger für sein Dekorationskonzept von der «Blüemlihalle» in Zürich inspirieren liess.2 «Die Eingangshalle des Amtshauses I in Zürich wurde von Augusto Giacometti ausgemalt. Die Bemalungen sind ähnlich und zugleich verschieden. Die ‹Blüemlihalle› ist dem Jugendstil zuzuordnen, diese hier ist im Art-déco-Stil gemalt. Das war das Modernste, was man seinerzeit haben konnte.» Der studierte Theologe, Kunstgeschichtler und Philosoph zeigt auf die geometrischen Formen und einzelne christliche Symbole. Dominant ist die rote Farbe. Die Ausmalung verleiht dem Raum mit den zwei toskanischen Säulen in der Mitte einen orientalischen Hauch. «Diese vollständig ausgemalte Schatzkammer ist einzigartig in der Schweiz», schwärmt der passionierte Führer. Er betreut seit 2018 den Luzerner Stiftsschatz im Mandat. Damals trat der ehemalige Probst Othmar Frei auf ihn zu und bat ihn, den über viele Jahre vernachlässigten Stiftsschatz für das 1250-Jahr-Jubiläum des Chorherrenstifts St. Leodegar neu ins Licht zu rücken und als Ausstellungsraum einzurichten.

Fenster zur Transzendenz

Frei öffnet Tür um Tür der raumhohen, altehrwürdigen Holzschränke. Es glänzt und funkelt aus den Kästen. Die goldenen und silbernen Exponate leuchten um die Wette.

«Gold symbolisierte im Mittelalter Licht, den Glanz von Gottes Herrlichkeit», führt Frei aus. «Schönheit ist seit alters her ein möglicher Zugang zur Transzendenz.» Die offenen Schränke erscheinen insofern wie Fenster zum göttlichen Geheimnis. Sie sind darüber hinaus Fenster in die Frömmigkeitsgeschichte ganz allgemein und besonders in die jahrhundertalte Geschichte des Chorherrenstifts Luzern. Mit der Geschichte des Chorherrenstifts eng verbunden ist eines der ältesten Exponate des Stiftsschatzes, ein kostbares Altar- und Prozessionskreuz. Im Kern datiert es aus dem Jahr 1171 und wurde von Ulrich von Eschenbach dem damaligen Benediktinerkloster Luzern übergeben. Das Kloster wurde später ein Chorherrenstift. Ulrich von Eschenbach stammte aus dem Oberelsass und war Vorsteher des Klosters Im Hof. Zusammen mit seinem Bruder Konrad, dem damaligen Abt des Klosters Murbach, setzte er 1178 den ersten Leutpriester in Luzern ein. Damit wurde der Ort am Ende des Vierwaldstättersees zur Stadt. «1482 wurde das ursprüngliche Kreuz im spätgotischen Stil der Zeit umgearbeitet. Dabei haben der damalige Probst Peter Brunnenstein und der Almosener Johannes Buchholzer einen beschrifteten Zettel ins Innere des Kreuzes gelegt. Dieser Zettel belegt, dass alle Reliquien, darunter eine Partikel vom Heiligen Kreuz, nach der Erneuerung wieder ordnungsgemäss in das Kreuz eingesetzt wurden», führt Frei aus und er fährt fort: «Es ist eines der bedeutungsvollsten mittelalterlichen Prozessionskreuze der Innerschweiz neben jenen in den Klöstern Engelberg und Frauenthal sowie im Chorherrenstift Beromünster.»

Ein fraulicher Himmel

Frei lenkt unseren Blick auf ein grosses Hinterglasgemälde der Malerin Anna Maria Barbara Abesch aus Sursee. Abesch war im 18. Jahrhundert eine international bekannte Hinterglasmalerin. Das Bild im Stiftsschatz stammt aus dem Jahr 1741 und zeigt eine himmlische Szene. «Sie sehen einen Engelchor und ein Engelorchester. Die Engel spielen Harfe, Laute, Geige, Flöte, Orgel usw. Das Besondere ist», führt Frei begeistert aus, «dass alle Engel Frauengesichter haben. Und es geht noch weiter. In der Mitte des Bildes sehen Sie drei Throne vor einem roten Baldachin. Auf dem mittleren sitzt Gott Vater, links von ihm sehen wir eine weiss gewandete Person mit sieben Flammen um den Kopf sowie einer Taube vor der Brust. Wer ist hier dargestellt? – Das Gesicht ist, schauen Sie genau hin, das einer Frau!  Flammen und Taube weisen sie als Heiligen Geist aus. Das ist überaus ungewöhnlich! Und warum ist der Thron rechts von Gott Vater leer? Zweifelsohne ist es der Thron Jesu, des Sohnes, der eben jetzt auf der Welt ist, um die Menschen zu erlösen. Aus mittelalterlichen Texten kennen wir zwei innertrinitarische Beratungen und Ratschlüsse», führt der Spezialist weiter aus. Bei der ersten Beratung gehe es um die Frage, ob der Mensch erschaffen werden soll oder nicht. Bei der zweiten, ob dieser nach dem Sündenfall ewig verdammt bleiben oder aber erlöst werden soll. «Diese Hinterglasmalerei zeigt den aus der zweiten Beratung hervorgegangenen Ratschluss Gottes zur Menschwerdung respektive zur Erlösung des Menschen. Höchst bemerkenswert ist, wie die Künstlerin das Weibliche ins Himmlische und in die Dreifaltigkeit integriert.»

Die Führung neigt sich dem Ende zu. Der Konservator  macht nochmals auf die Ausmalung der Stiftskammer aufmerksam und zeigt auf eine schmale Wand: «Hier hat Schmidiger einen überlebensgrossen Engel mit riesigen Flügeln und Flammenhaar gemalt, einen Seraph. Ganz in der Art von Gustav Klimt ist dessen Körpervolumen über das Ornament in die Fläche aufgelöst. Wie viele Maler, die ein grosses Werk geschaffen haben, hat sich auch Schmidiger in diesem verewigt: In einem Zwickel des Gewölbes ganz hinten im Raum ist sein Gesicht zu erkennen.»

Für den Spezialisten für Sakralkunst lebt der Luzerner Stiftsschatz von diesem stimmungsvollen Raum mit seiner besonderen Ausmalung. Der Dreiklang von Spätrenaissancearchitektur, Art-déco-Stil und sakralen Schatzobjekten mache das Einzigartige des Stiftsschatzes aus.

Frei beginnt Türe um Türe zu schliessen. Die Fenster zur Frömmigkeitsgeschichte. Es bleiben die Holzschränke und die wundervolle Decke. Die Kerzen werden ausgeblasen. Ich verlasse die «himmlische Stadt Jerusalem» und trete über die Kirchenschwelle in die Stadt Luzern im Abendlicht.

Maria Hässig

 

1 Mehr Informationen zum Stiftsschatz der Stifts- und Pfarrkirche St. Leodgar in Luzern unter www.luzern-kirchenschatz.org

2 Mehr Informationen zur «Blüemlihalle» unter www.stadt-zuerich.ch/pd/de/index/das_departement/giacometti_halle.html

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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