«Der Kirchenbau gehört zum Bild eines Ortes»

Autowerkstatt, Bibliothek, Kindertagesstätte, Ausstellungsraum oder Kolumbarium? Wie soll ein Kirchenraum neu oder erweitert genutzt werden? Ein Gespräch über virulente Fragen.

Für das Kloster Dornach SO wurden neue Nutzungsmöglichkeiten verwirklicht. In der Kirche werden weiterhin Gottesdienste gefeiert, es finden aber neu auch Ausstellungen statt wie «Bagdad» von Maja Rieder (24. Mai bis 18. Oktober). (Bild: zvg)

 

Steht eine Renovation des Kircheninnenraums an oder ist er zu gross geworden, werden Fragen nach möglichen Änderungen in der Raumgestaltung und in der Raumnutzung akut. Was ist möglich? Was ist sinnvoll? Peter Spichtig, Co-Leiter des Liturgischen Instituts in Freiburg i.Ue., bietet Kirchgemeinden und Pfarreiteams Beratung an.

SKZ: Wie stark sind Sie gegenwärtig in Ihrer Arbeit mit Fragen der Umnutzung oder variablen Nutzung von Kirchen und Kapellen konfrontiert?
Peter Spichtig: Die Anfragen für Beratung in diesem Bereich sind – noch – überschaubar. Es sind ungefähr zwei bis drei Anfragen jährlich, wobei zu berücksichtigen ist, dass in den Bistümern Basel und Chur eigene Kommissionen existieren und im Bistum St. Gallen solche Beratungen vom Ordinariat wahrgenommen werden. Wir vom Liturgischen Institut sind hier quasi komplementär tätig. Stärker beschäftigt mich das Thema derzeit als Sekretär der Liturgischen Kommission, die für die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) eine Neufassung der 2006 veröffentlichten Empfehlungen für die Umnutzung von Kirchen und von kirchlichen Zentren1 erarbeitet.

Was führt zu dieser Neufassung und wann wird sie voraussichtlich publiziert?
In der Liturgischen Kommission kamen wir zum Schluss, dass das Dokument unter zweierlei Hinsicht ergänzungsbedürftig ist. Dieses fokussiert vor allem auf rechtliche Aspekte. Die Neufassung will stärker die theologische, spirituelle und vor allem die liturgische Bedeutung des Kirchenraums hervorheben und Hilfen bieten, Eingriffe im Raum rituell zu begleiten. Wenn das bisherige Dokument vorwiegend vom Fall einer übrig gewordenen Kirche ausgeht, soll die Neufassung differenzierter von Optionen erweiterter Nutzung, Mischnutzung oder geteilter Nutzung von Sakralräumen handeln. Ein Konzeptentwurf besteht bereits. Die Ausarbeitung und Diskussion in den entsprechenden Gremien wird aber sicher noch ein Jahr in Anspruch nehmen.

Welches sind die Hauptgründe, die Kirchgemeinden veranlassen, eine Umnutzung oder variable Nutzung in Angriff zu nehmen?
Ein Hauptgrund liegt natürlich im Säkularisierungsprozess, der uns Christen seit Jahrzehnten beschäftigt und nun Dimensionen erreicht, die auf verschiedenen Ebenen zum Handeln drängen. Hinsichtlich der Kirchenbauten zeigt sich das an einem Doppeleffekt. Die aus christentümlichen Zeiten stammenden Kirchen werden von der kleiner werdenden Feiergemeinde zunehmend als zu gross empfunden. Symptom dafür sind die vielen leeren Bänke, die es alle einmal brauchte, nun aber als stark paralysierend empfunden werden. Damit einher geht der prosaische Effekt, dass die aufgrund der Kirchenaustritte schwindenden Mittel Sparrunden auf den Plan rufen und somit die Frage nach dem Unterhalt der riesigen Kirchen früher oder später auftritt. Denn darüber müssen sich Kirchgemeinden und Gläubige im Klaren sein: Ein Kirchengebäude zu unterhalten, rentiert nie, das muss man wollen! Ein weiterer Grund für Umnutzungserwägungen liegt in einem Generationenwechsel. Vor 30 bis 40 Jahren wurden in den meisten unserer Kirchen mehr oder weniger umfangreiche Anpassungen vorgenommen, um in diesen Räume die erneuerte Liturgie feiern zu können. Inzwischen ist da und dort das Bewusstsein gereift, dass diese Lösungen bisweilen zu schnell gefunden wurden und sich nun als nicht tragfähig erweisen. Wir haben inzwischen tiefer darüber nachgedacht und Erfahrungen gesammelt damit, was ein Ambo ist, welche Rolle dem Vorsteher eines Gottesdienstes zukommt und damit auch über ihre Positionierung im Raum usw. Ohnehin steht im Schnitt etwa alle 30 Jahre eine Renovierung an. Das wird jetzt oft zum Anlass genommen, grundsätzlicher über den Raum und sein Nutzungspotenzial nachzudenken.

Was raten Sie Kirchgemeinden, wenn sie eine neue oder variable Nutzung einer Kirche oder Kapelle ins Auge fassen?
Ich kann nur einige Stichworte nennen. Ausführlich und betont praxisnah soll das im neuen, bereits vorher erwähnten Dokument dargestellt werden. Das Wichtigste scheint mir, dass sich die Kirchgemeinden der hohen Symbolik des Kirchenraums bewusst sind. Dieser ist der Liturgie geweiht, d.h. erster und nobelster Zweck einer Kirche ist die Versammlung der Getauften zur Feier der Gegenwart Gottes mitten unter ihnen. Damit wird der Kirchenraum immer assoziiert werden, ungeachtet des Umstands, ob er einst profaniert und einem anderen Zweck übergeben wurde. Sie brauchen nur an die (realen) Beispiele neuer Nutzungen als Autogarage oder SPA- Center zu denken und sich vorzustellen, dass Ihre Eltern darin getraut wurden und Sie einst zur Erstkommunion gingen. Wohlgemerkt: Kanonisch sind solche Umnutzungen möglich. Aber pastoralpsychologisch und für die Reputation der Kirche sind sie verheerend. Das heisst, dass künftige alternative Nutzer oder gar Besitzer sehr, sehr sorgfältig ausgesucht werden müssen. Damit klingt auch schon an, dass wir nicht so tun dürfen, als gehöre die Kirche uns bzw. der Kirchgemeinde. Der Kirchenbau gehört zum Bild und damit zur Identität eines Ortes, zu seiner Geschichte, die immer auch eine Liebes-, Leidens- und Feiergeschichte ist. Von Beginn eines solchen Prozesses an sind möglichst viele Partner einzubeziehen, wozu meist auch die Denkmalpflege gehört. Eine soweit als möglich objektive Erhebung des Raumpotenzials gehört hierzu: Welche kunst- und kulturgeschichtliche Bedeutung kommt der Kirche zu? Was ist ihre architektonische Stärke? Welchen Wert hat ihre Orgel? Um nur ein paar Fragen zu nennen. Genau so wichtig ist auch, dass die Kirche vor Ort ernsthaft über ihr Pastoralkonzept nachdenkt. Wie ist das kirchliche Leben und die Seelsorge in diesem Ort und im Verbund mit anderen Orten in den nächsten Jahren zu profilieren? Wer jetzt hingeht und über die Nutzung einer Kirche nachdenkt, muss dies zwingend im offenen Dialog auf überpfarreilicher Ebene (Dekanat/Bistumsregion u.ä.) tun.

Haben Sie ein Beispiel einer aus Ihrer Sicht gelungenen Umnutzung? Wo lagen bei diesem Beispiel die Herausforderungen?
Ein gelungenes Beispiel sehe ich im ehemaligen Kapuzinerkloster Dornach. Dort ist es nach einigem Hin und Her gelungen, die Klostergebäulichkeiten samt Kirche in ein komplexes, neues Nutzungskonzept zu überführen, das im Label transparent wird: Kloster Dornach. Restaurant Hotel Kultur Kirche.2 Es ging darum, eine wirtschaftliche Nutzung zu erreichen, ohne dem Gebäude mit seiner Geschichte und Ausstrahlung als Kloster Gewalt anzutun. Die dafür gegründete Stiftung vereint verschiedene zivile und kirchliche Behörden sowie den Verein der Freunde des Klosters Dornach, der sich für die Fortsetzung des Hausgeistes in zeitgemässer Form einsetzt. Hier wird erfolgreich versucht, mit dem Pfund zu wuchern, was da ist: dem Kloster. Die Kirche ist als solche erhalten und steht weiterhin für individuelle Besucher und Beter offen. Sie wird auch nach wie vor bewusst als Gottesdienstraum genutzt. Zudem wird sie in Ausstellungskonzepte einbezogen. Neben dem Restaurant ist es gerade das Kultur- angebot, das mit Ausstellungen, Klosterführungen und Konzerten das Kloster mit seiner Kirche für die Öffentlichkeit in stimulierender Weise lebendig erhält.

Können Sie uns auch ein Beispiel einer erweiterten Nutzung geben?
Eine erweiterte Nutzung wurde für die Peterskapelle Luzern gewünscht, die dringend renoviert werden musste. Bedingt durch ihre zentrale Lage in der Altstadt, ihre Geschichte als Leutkirche und den Umstand, dass sie keine Pfarrkirche ist, wurde ein Konzept für eine niederschwellige City-Pastoral entwickelt. Ziel war, einen Begegnungsort zu ermöglichen, der sowohl zu gottesdienstlichen als auch zu kulturellen wie sozialen Angeboten einlädt. Dafür wurde in einem offenen Wettbewerb die beste Idee gesucht. Wettbewerbsbedingung war eine interdisziplinäre Teambildung. Ein Architekturbüro konnte sich also nicht allein bewerben, sondern musste sich bereits in der Wettbewerbsphase mit einem Team einer anderen Disziplin zusammenraufen, beispielsweise mit bildender Kunst oder Kunstgeschichte. Eine geradezu typische Herausforderung war die Spannung zwischen Nutzungskonzept und Anforderungen der Denkmalpflege. Die historisch bedeutende Peterskapelle war bisher geradezu «verbankt»; ausser dem Mittel- und den beiden Seitengängen war kaum ein Quadratmeter Bewegungsfreiheit in dieser Kirche. Dies wurde zu einem schwierigen Problem im Ringen um die angestrebte variable Nutzung, für die das Variieren von Settings im Raum elementar war. Die gefundene Lösung besticht dadurch, dass sie einerseits die Kapelle mit ihrem historischen Erbe valorisiert und als liturgischen Raum für eine zeitgemässe Gottesdienstgestaltung aufwertet und anderseits Möglichkeiten bietet, den Raum anders zu bespielen.3

Was gilt es bei einer variablen oder erweiterten Nutzung insbesondere zu berücksichtigen?
Auch hier gilt es, sowohl das Raumpotenzial als auch die Bedürfnislage sorgfältig zu studieren. Soll im Raum weiterhin primär Liturgie gefeiert werden, haben die alternativen Nutzungen dem Rechnung zu tragen und sind eingeladen, damit in konstruktiven Dialog zu treten. Oft stellt sich die Frage nach einem verschiebbaren Altar. Da würde ich erst mal sagen: In einer Kirche ist der Altar das Symbol Christi, der die Getauften zur Gemeinschaft ruft. Wem der Altar in diesem Sinne im Weg ist, der ist in einem Kirchenraum nicht am richtigen Ort. Wer sich aber dazu in eine dynamische Beziehung setzt, der kommt als potenzieller Partner infrage. Das kann ein Konzert des Jodelclubs sein, ein Literaturabend, eine Tanzperformance oder ein Buch-Shop in der einen und ein Kinderhort in der anderen Ecke: Solange Christus nicht «aus dem Weg geräumt wird», verträgt es vieles. Hinsichtlich der zunehmend zu grossen Kirchen sind je nach Umständen reversible Raumteiler denkbar, womit sich verschieden genutzte Räume im einen grossen Kirchenraum ergeben.

Nicht nur in der Schweiz steht die Frage nach der zukünftigen Nutzung von Kirchen im Raum, sondern auch im nahen Ausland. Welche Entwicklungen beobachten Sie da?
Tatsächlich ist die Fragestellung weder neu noch lokalspezifisch. Kirchenumnutzungen hat es immer schon gegeben; nicht immer unter edlen Bedingungen, wie wir u.a. aus der Reformations- und Revolutionsgeschichte wissen. Unter den Bedingungen der Säkularisation hat sie sich lediglich verschärft. Das ist auch dem Päpstlichen Rat für die Kultur aufgefallen, weshalb er Ende letzten Jahres Delegierte aller Bischofskonferenzen weltweit zu einer entsprechenden Tagung nach Rom lud. Die publizierten Guidelines4 zeugen von einem hohen und differenzierten Problembewusstsein, das vor allem der komplexen soziokulturellen Kontextualität von Kirchenräumen grossen Platz einräumt. Sie plädieren für interdisziplinären, professionellen Umgang in diesen Fragen und mahnen nicht zuletzt die kunsthistorische Bildung innerhalb des Theologiestudiums an. Inhaltlich sehe ich eine grosse Übereinstimmung mit den bisherigen hiesigen Positionen. Erwartungsgemäss äussern sie sich ablehnend hinsichtlich der Veräusserung von Kirchengebäuden an Private für kommerzielle Zwecke und an andere Religionsgemeinschaften, ist aber sehr offen für ökumenische Partner und mit christlichen Werten kompatible kulturelle Umnutzungen. Diese Reflexionen werden selbstverständlich in die Redaktion des Papiers der SBK einfliessen.

Auch die evangelisch-reformierte Kirche ist mit dieser Thematik konfrontiert. Wo liegen die Gemeinsamkeiten und wo die Unterschiede zur katholischen Kirche?
Mit dem Schwerpunkt Kirchenästhetik am Kompetenzzentrum Liturgik der Theologischen Fakultät der Universität Bern sind uns die reformierten Kirchen ein gutes Stück voraus. Johannes Stückelberger, Professor für Kunstgeschichte, richtet den biennalen Kirchenbautag aus und hat eine eindrückliche Datenbank zu Kirchenumnutzungen aufgebaut. Seit Kurzem liegt eine Praxishilfe zum Thema aus seiner Feder auf.5 Die Gemeinsamkeiten überwiegen aber die Unterschiede bei Weitem. Wir können sehr voneinander profitieren. Unterschiede zeigen sich einerseits in den technischen Aspekten der Zuständigkeiten (Gremien, Kirchenrecht) und andererseits im Kirchen- und Liturgieverständnis. Aber selbst wenn in gut reformierter Tradition argumentiert wird, dass ein protestantischer Kirchenraum nicht geweiht sei, zeigt die neuere Diskussion, dass auch in reformierten Reihen eine wachsende Wahrnehmung fürs Atmosphärische eines Gottesdienstraums zu verzeichnen ist. Ich denke, wir sollten das als kritische Anfrage an unser eigenes Verständnis von «sakral» verstehen, da uns die Rede von der Sakramentalität so leicht und theologisch oft viel zu unreflektiert von den Lippen geht.

Interview: Maria Hässig

 

1 Die Empfehlungen von 2006 sind z. B. zugänglich unter: www.liturgie.ch oder www.schweizerkirchenbautag.unibe.ch

2 Einblick in die neuen Nutzungen des Klosters Dornach, siehe www.klosterdornach.ch

3 Mehr zur Peterskapelle Luzern unter: www.kathluzern.ch/fr/peterskapelle.html

4 Die «Guidelines for decommissioning and ecclesiastical reuse churches» sind abrufbar unter: www.cultura.va

5 Die Praxishilfe «Erweiterte Nutzung kirchlicher Gebäude» ist unter www.refbejuso.ch/inhalte/kirchenbau/publikationen bestellbar. 

 

 


Peter Spichtig OP

Peter Spichtig OP (Jg. 1968) stammt aus Sachseln OW. Er studierte in Freiburg i. Ü. und Berkeley (USA). Nach einigen Jahren in der Pfarreiseelsorge arbeitet er seit 2004 beim Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz.