Begegnungen ohne Stereotype

Die Religionsfreiheit sollte mehr zum Tragen kommen als nur dann, wenn sie verletzt wird. Der 18. Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lädt zu vertiefter Reflexion und einem neuen Miteinander ein.

Seit Jahren ist mir die Chance gegeben, mit einer Gruppe von Freunden aus vorwiegend islamischen Ländern über die Herausforderungen nachzudenken, mit denen Ausländer und Einwanderer konfrontiert sind. Nach dem Covid-19-bedingten Lockdown traf ich sie wieder. Sie erzählen von Situationen, die geprägt sind von schablonenartigen Vorstellungen, Stereotypen und Handlungsmustern, die Menschen voneinander trennen. Wie können wir in der Begegnung mit dem andern weiterkommen? Wie können wir in der Verschiedenheit statt Gefahren einen Reichtum sehen? Die Fragen sind nicht neu, sie verlieren jedoch nie ihre Aktualität.

Wie Wahrnehmungen geprägt sind In den ersten zwei Dekaden dieses 21. Jahrhunderts kamen wir wie nie zuvor in Kontakt mit verschiedenen Personen aus anderen Kulturen und anderen Religionszugehörigkeiten, die als bedrohlich wahrgenommen werden können. Wie die französische Politologin Catherine Wihtol de Wenden betont, sind von den 7,5 Mia. Menschen unserer Erde mehr als 1 Mia. Migrierte im eigenen Land oder ausserhalb ihres Landes. Zudem haben die Attentate vom 11. September 2001 die Aufmerksamkeit auf die Religionen, besonders auf den Islam und das Christentum, gelenkt. Der US-amerikanische Soziologe Peter L. Berger (1929–2017) bemerkte, dass ein Blick auf die gegenwärtige Welt uns nicht Säkularisation, sondern einen enormen Aufbruch leidenschaftlicher religiöser Bewegungen offenbart.
Menschen sind dem Risiko ausgesetzt, dass sie auf der Grundlage religiöser Überzeugungen definiert werden. Auch werden sie entsprechend ihrer Herkunft oder ihres Namens einer Religion zugeordnet. Hussein, ein in der Türkei geborener Kurde, der nicht das geringste Interesse für Religion und kaum Kenntnisse des Islams hat, lebt mit dem Gefühl, hier in der Schweiz automatisch als Muslim wahrgenommen zu werden. Anlässlich unseres Gesprächs fragte er mich, ob es in der Schweiz möglich sei, den Vornamen zu wechseln. Dann bestünde allerdings die Gefahr, dass seine Familie meint, Hussein sei in eine Religionsgemeinschaft übergetreten.

Die Religionsfreiheit tiefer verstehen

Die religiöse Vielfalt verweist uns auf die Tragweite des Artikels 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, nämlich auf die Möglichkeit, eine bestimmte Religion zu wählen, auszuüben und zu bekunden oder sich zu keiner Religion zu bekennen. Die Religionsfreiheit beinhaltet zunächst, dass jeder Mensch Anspruch darauf hat, sich zum eigenen Glauben bekennen und diesen praktizieren zu dürfen. Für viele bedeutet Religionsfreiheit Begünstigung des Proselytentums. Dies erklärt, warum auf das Recht der Religionsfreiheit immer dann Bezug genommen wird, wenn es um die Verurteilung dieser Rechtsverletzungen geht. Aber entspricht die alleinige Verurteilung dem, was dieses Menschenrecht alles beinhaltet? Und entspricht sie den Forderungen der Glaubens- und Religionsgemeinschaften? Unterstützt sie die Förderung der menschlichen Werte? Die Verurteilung der Missachtung, die Missbilligung allein schränkt den Sinn des Textes der Menschenrechtserklärung ein. Sie spielt auch das Wesen der zwei Religionen herunter, die am meisten Gläubige zählen, des Christentums und des Islams, letztlich aber jeder Religion, jeder Glaubensüberzeugung. Gründet die Fruchtbarkeit der Religionsfreiheit nicht vielmehr im Nachdenken darüber, wie wir die andern annehmen sollten, besonders jene Personen, welche Vorstellungen und Überzeugungen zum Ausdruck bringen, die wir als andersartig oder den unseren sogar entgegengesetzt einstufen?  

In der Menschlichkeit wachsen

Andere abzuwehren, zu überreden oder zu gewinnen suchen, sind Haltungen, welche die Tiefenwirkung relativieren, die das Recht auf Religionsfreiheit hervorzurufen und zu vermitteln vermag. Wenn wir den Wahrheiten entsprechen wollen, die sich aus der Bejahung der Religionsfreiheit ergeben, müsste sich das Nachdenken über sie anders ausrichten. Im Zentrum dieses Nachdenkens stünden dann unsere Ideen und Haltungen dem Recht des anderen gegenüber, seinen Glauben zu bekunden und zu praktizieren, seinem Recht, einen anderen Glauben zu haben. Wie reagiere ich gegenüber einer Person, welche sich von meiner Glaubensüberzeugung abwendet, um zu einer anderen Religion zu konvertieren? Wenn wir anderen begegnen, offenbart die Art, wie wir auf sie zugehen, unsere Wahrnehmung. Das uneigennützige Annehmen bietet sowohl für die Person, die angenommen wird, wie für die Person, die annimmt, die Aussicht, dass sie menschlich wachsen und die erworbenen Ansichten und Überzeugungen sich weiterentwickeln können.

Die Religionsfreiheit fordert uns somit auf, eine Sicht zu erwerben, welche auf die Etikette verzichtet, die wir gern auf eine Person oder Gemeinschaft kleben. Eine offene Haltung ermöglicht uns, Kontakte zu anderen Menschen mit unterschiedlichen Ideen und Ansichten wahrzunehmen. Das Leben bietet sie uns an. Es liegt an uns zu beurteilen, ob wir uns von Menschen mit abweichenden Ideen abwenden oder ob wir die Gelegenheit erfassen, in unserem Menschsein und in unserer Spiritualität zu wachsen.

Gemeinsam auf die Wahrheit zu

Die Zugehörigkeit zu einer Religion hat Sinn, wenn sie vor allem eine Quelle für die Person ist, in ihrer Menschlichkeit und in ihrem geistlichen Leben Fortschritte zu machen. Religion auf diese Weise zu leben, kann nur im Einklang mit dem Artikel 18 der Menschenrechtserklärung stehen. Für diejenigen, die an Gott glauben, ist die Freiheit das, was sie Gott nahebringt und ihm ähnlich macht. Die Lebenserfahrung zeigt, dass Gott uns nie die Freiheit nimmt, auch dann nicht, wenn wir sie gegen ihn verwenden, indem wir aus persönlichen Interessen und eigener Entscheidung Kinder Gottes töten oder verletzen. Den Artikel 18 haben Politiker angeregt, um die Würde eines jeden Menschen zu verteidigen und zu fördern. Die Staaten waren aufgefordert, ihn in ihre Verfassungen aufzunehmen. Die Vermittlung dieses Rechts, seine konkrete Übertragung jedoch, hängt ab von der inneren Freiheit des gläubigen Menschen, vom Gespür für Gastfreundschaft und vom Willen und der Fähigkeit, im geistlichen Leben zu wachsen. Wie wir zur Religionsfreiheit stehen, zeigt sich in konkreten Erfahrungen dort, wo wir leben: im Quartier, in der Gemeinschaft, bei der Arbeit, zu Hause. Den Sinn für Religionsfreiheit erwirbt man an eben diesen Orten. Sie bieten Gelegenheit, den Sinn für Freiheit und Menschlichkeit zu schärfen.

Mir kommt eine muslimische Frau in den Sinn, die ich in Duschanbe in Tadschikistan kennenlernte. Trotz ihrer schwierigen Situation teilte sie ihre kleine Wohnung mit zwei alten Frauen, mit einer orthodoxen Russin und einer katholischen Armenierin. Vorher lebten die zwei christlichen Witwen in einem Dorf an der Grenze zu Afghanistan, das sie wegen des Bürgerkrieges, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Tadschikistan ausgebrochen war, verlassen mussten. Eines Abends fand die Muslimin die beiden Frauen in einer Strasse von Duschanbe. Ich habe diese Geschichte von einer der beiden Christinnen selbst erfahren. Damals wirkten dort katholische Missionare aus Argentinien, die wie ich 1995 nach Zentralasien gekommen waren. Für einen dieser Missionare war es undenkbar, dass die Menschlichkeit dieser muslimischen Frau eine Frucht ihrer islamischen Religion und der Lehre des Korans war. Ich zog es damals (und heute noch) vor, auf die Worte des Sufi al-Hallaj zu hören, die Louis Massignon (1883–1962), einer der anerkanntesten Islamologen und katholischer Konvertit, bekannt machte: «Wisse, dass Judentum, Christentum, Islam und alle anderen Religionen sich nur durch den Namen und die Bezeichnung unterscheiden, dass aber ihr Ziel einzig und unveränderlich ist.»

Noch heute beziehe ich mich auf diese Frau, um meine Gastfreundschaft in meinem Land, bei der Arbeit und bei mir zu Hause zu prüfen. 1982 schrieb Frère Christian, Mönch von Tibhirine: «Menschen, die sich bemühen zu wachsen in der Nächstenliebe, gehen mit Sicherheit gemeinsam auf die Wahrheit zu, die uns alle übersteigt.»

Roberto Simona


Roberto Simona

Dr. rer. pol. Roberto Simona arbeitet seit über 20 Jahren im Bereich der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Im Lauf der Jahre eignete er sich ein grosses Wissen im Bereich der Menschenrechte mit Schwerpunkt Religionsfreiheit an. Er gehört der Arbeitsgruppe Islam der Schweizer Bischofskonferenz an.

 

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