«Beanspruchte Toleranz schlägt um in Intoleranz»

Religiöse und kulturelle Pluralität sind ein Faktum. Wird die faktische Pluralität normativ, besteht die Gefahr der Intoleranz. Die SKZ sprach mit Heinzpeter Hempelmann über den postmodernen Wahrheitspluralismus und seine Schattenseiten.

Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann MA (Jg. 1954) studierte Theologie und Philosophie in Bonn und Tübingen und promovierte an der Evang.-theol. Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Theologische Beiträge und des Evangelischen Lexikons für Theologie und Gemeinde. Seine Hauptarbeitsschwerpunkte sind Wissenschaftstheorie und Theorie der Postmoderne.

 

SKZ: Welche Konsequenzen hat der postmoderne Wahrheitspluralismus auf Gesellschaft und Kirche?
Heinzpeter Hempelmann: Wir müssen zuerst klären, was wir unter postmodernem Wahrheitspluralismus verstehen wollen. Friedrich Nietzsche formuliert im Spätwerk hellsichtig: Der Einzelne ist etwas Absolutes, das Individuum ist das Absolute. Es ist sich selbst letzter Horizont, letzter Massstab, eben weil es – nach dem Verlust des traditionell Absoluten – an die Stelle dieses Absoluten tritt. Im Blick auf Wahrheit bedeutet das: Es gibt Wahrheit, die eine Wahrheit als den allen vorgegebenen gemeinsamen Horizont, auf den sich alle beziehen und der bei aller Unterschiedlichkeit der Wahrheitsansprüche eben doch alle verbindet, nicht. Wir beziehen uns nicht mehr gemeinsam auf eine Wahrheit, um die wir ringen und über die wir unterschiedliche Theorien aufstellen, die miteinander konkurrieren. Vielmehr ist jede und jeder Einzelne von uns Wahrheit. Es gibt in der Konsequenz nicht nur eine Wahrheit, sondern so viele, wie es Individuen gibt. Jedes Individuum hat das Recht auf seine Wahrheit. Das hat Konsequenzen. Individualität wird zum höchsten Wert. Als Individuum nicht unter allgemeine Regeln gebracht, normiert werden, ein unverwechselbares Gepräge zeigen, wird zum Imperativ. Erzählungen, Geschichten, Narrative gelten mehr als Theorien, Positionen; Betroffenheit mehr als Argumente; Buntheit und Vielfalt mehr als Übereinstimmung und errungene Konsense.

In Ihrem Buch «Stürzen wir nicht fortwährend?»1 vertreten Sie die These, dass der Wahrheitspluralismus ethisch nicht verantwortbar ist. Weshalb?
Ich sehe mehrere Probleme. Erstens, wenn alle Positionen, auch in ethischen Fragen, gleich gültig sind, wird dann nicht die Wahrheitsfrage, die Frage nach dem Richtigen vergleichgültigt? Entsteht nicht ein ethischer Dämmer, in dem alle Katzen grau sind? Zweitens, ein postmoderner Wahrheitspluralismus vergleichgültigt nicht nur die Wahrheitsfrage, er perhorresziert sie. Die Suche und Frage nach der Wahrheit erübrigt sich, wenn es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern viele. Drittens sucht und braucht der Mensch als Orientierungswesen aber Orientierung. Er braucht Antworten auf die Fragen: Was ist richtig und was ist falsch? Genau das unterscheidet ihn als zoon logon echon (Aristoteles) vom Tier, das instinktgeleitet handelt. Sehr viele Menschen halten die programmatische Orientierungslosigkeit nicht aus. Eine Konsequenz des Wahrheitspluralismus ist Orientierungsverlust, eine weitere ein intellektueller Kurzschluss in Form einer fundamentalistischen Wende. Postmoderner Wahrheitspluralismus provoziert Fundamentalismus geradezu. Viertens teilen viele Menschen aus gutem Grund auch nicht die Ansicht, nur weil sie – oder jemand anders – eine Meinung oder Position verträten, wäre diese deshalb schon Wahrheit und verdiene dieses Höchstprädikat. Respekt bedeutet gerade nicht, dass mein Mitmensch allem zustimmt, was ich als irrtumsfähiger Mensch verlautbare. Im Gegenteil! Kritik ist eine Form der Anerkennung. Sie nimmt das Gegenüber, das Andere, das Wider­sprechende ernst. Und fünftens, so integrativ und tolerant der Wahrheitspluralismus zu sein scheint, so sehr ist er doch auch selbst eine Position, die andere Positionen ausschliesst. Die Position lautet im Kern: «Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Es gibt viele Wahrheiten. Und das ist die Wahrheit.» Alle, die eine andere Ansicht vertreten, finden in diesem Konzept eines vorgeblich alle integrierenden, toleranten und darum herrschen sollenden Konzeptes keinen Platz. Postmoderner Wahrheitspluralismus zeigt hier seine Schattenseite. Beanspruchte Toleranz schlägt um in Intoleranz.

Die Vielfalt der Religionen ist eine Realität. Sie unterscheiden zwischen Pluralität und Pluralismus und machen sich für eine religiöse Pluralität stark.
Die Vielfalt der Religionen ist eine und war schon immer eine Realität. Sie bedeutet eine enorme Herausforderung für das Zusammenleben. Massgebende Kulturtheoretiker wie Ulrich Beck, Jan Assmann, Odo Marquard, aber auch der Theologe Hans Küng kritisieren vor allem die monotheistischen Religionen. Mit ihren universalen, absoluten und exklusiven Geltungsansprüchen stellen sie ein Risiko für das Zusammenleben dar. Sie gebärden sich intolerant und konfliktträchtig. Es braucht deshalb der Lage entsprechend andere Formate von Religion und Religionsausübung. Um dieser Herausforderung zu genügen, wird in neueren religionstheologischen Entwürfen das Konzept des Wahrheitspluralismus' auch im Bereich der Religionen umgesetzt. Der religiöse Wahrheitspluralismus bzw. die pluralistische Religionstheologie sehen Unterschiede, aber nur an der – historischen, kulturellen – Oberfläche. Alle sind letztlich auf den Einen oder das Eine bezogen. Sie münden darum aus in eine Einheitszumutung und fordern eine doppelte Relativierung: Es gilt, diesen Bezug zu dem unaussprechlichen Einen, das alle verbindet, einzuräumen und auf absolute und exklusive Geltungsansprüche zu verzichten. Die Frage ist jedoch vielmehr: Wie können wir alternativ mit der Pluralität der Religionen so umgehen, dass wir sie nicht uniformieren und von vornherein in ihrem Aussagewillen beschneiden? Dies gelingt durch eine Toleranz, die das Gegenüber stehen lässt und seinen religiösen Aussagewillen nicht zensiert; durch Respekt vor der geschichtlich gewordenen kulturellen Gestalt, in der das Andere begegnet, das nicht als im Prinzip beliebige Variante von etwas Dahinterliegendem abgewertet wird. Es erfordert einen Verzicht auf Eintrittskonzepte, die dem Anderen das Eigene unterstellen, und das für Dialog unabdingbare Zugeständnis: we agree to disagree2. Es bedarf des Weiteren einer Anerkennung der faktischen Wahrheitskonkurrenz von Religionen und eines Verzichts auf ein Einheitskonzept sowie eines Lebensdialogs. In der konkreten Begegnung, ja Konfrontation mit dem Anderen, Fremden, auch als bedrohlich Empfundenen zeigt sich, ob eine Religion die Kraft hat «(an)genehm zu machen» (Lessing).

Wie ist es zu vermeiden, dass die faktische religiöse Pluralität nicht zu einem normativen Prinzip mit entsprechenden Geltungsansprüchen wird?
Faktische Pluralität ist nicht zu bestreiten. Zu unterstellen, sie sei deshalb, weil sie gegeben ist, schon gut, richtig, wahr, bedeutet einen Fehlschluss vom Sein aufs Sollen, auch wenn das scheinbar tolerant ist. Durch normativ gewendete Pluralität als Pluralismus überspielen wir die hohe ethische Herausforderung, die mit Pluralität und Diversität für uns Menschen als Gemeinschaftswesen verbunden ist. Erlebte Diversität fordert heraus und wird im Nahbereich schnell zur Zumutung. Ein zweiter, ebenfalls sprachlich basierter Rat: Wir müssen neu lernen zu unterscheiden zwischen Respektieren und Akzeptieren. Tolerieren und Anerkennen sind zweierlei. Vieles können wir tolerieren, akzeptieren können und müssen wir es deshalb nicht. Jemand muss nicht mit mir übereinstimmen, damit ich ihn toleriere. Für das Zusammenleben von soziokulturell so Unterschiedlichen in einer multikulturellen Gesellschaft ist die Unterscheidung von Toleranz und Akzeptanz überlebenswichtig.

Wie können denn Religionen miteinander angemessen in einen Dialog treten?
Viele Dialogkonzepte unterlegen eine Konsenstheorie der Wahrheit oder unterstellen eine letzte Einheit der Dialogpartner. Im ersten Fall ist die Wahrheit den Dialogteilnehmenden nicht vorgegeben, sondern Ergebnis eines Aushandelns; im anderen Fall wird als fundamentale Wahrheit schlicht vorausgesetzt, dass letztlich doch alle an denselben Gott o. ä. glauben. Diese Dialogkonzepte sind gut gemeint, aber sie sind letztlich nicht ehrlich und sie sind manipulativ. Voraussetzungen für einen offenen Dialog sind: Erstens der Grundsatz we agree to disagree. Jede und jeder muss sagen können, was sie oder er will. Es darf keine Zensur der Geltungsansprüche geben. Dialog bedeutet nicht: Verzicht auf Standpunkte. Dialog hat im Gegenteil nur Sinn, wenn gegensätzliche Standpunkte ins Gespräch eingebracht werden. Zweitens echte Toleranz. Echte Toleranz fängt da an, wo mir etwas begegnet, was wirklich fremd, radikal anders ist und die Grenzen des für mich Erlaubten überschreitet. Und drittens die Förderung des Lebensdialogs. Wo der Lebensdialog gelingt und die Beziehungen stärkt, da wird man auch mit Widersprüchen, Gegensätzen und Konflikten besser, konstruktiver umgehen können.

Interview: Maria Hässig

 

1 Hempelmann, Heinzpeter, Stürzen wir nicht fortwährend? Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz, Holzgerlingen 2015.

2 Wir sind damit einverstanden, nicht zuzustimmen.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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