Ein Leitstern interreligiöser Wahrheitssuche

Die Frage nach absolutem Wahrheitsanspruch und Gewaltpotenzial der Monotheismen stellt sich in jeder Zeit neu. Es ist die Ringparabel, die auch in Zeiten des religiösen Pluralismus auf diese Frage eine Antwort hat.

Das Problem mit den streitsüchtigen monotheistischen Religionen wird schon seit dem frühen Mittelalter in Judentum, Christentum und Islam mit demselben Erzählgut behandelt: Der Ringparabel. Berühmt durch Lessings Bearbeitung in «Nathan der Weise» ist die Geschichte vom Vater, der seinen drei Söhnen, die die drei Religionen symbolisieren, je einen Zauberring vererbt; den echten und zwei Imitate, mit dem Auftrag, durch Wettstreit im Guten herauszufinden, wer den echten Ring besässe. Bei Lessing findet sich auch der Schlüsselsatz aufgeklärter religiöser Toleranz: «Es eifre jeder seiner unbestochnen/Von Vorurteilen freien Liebe nach!».

Weder Gewissheit noch Gleichgültigkeit

Noch die Nazis fühlten sich durch den weisen Juden Nathan und den toleranten muslimischen Herrscher Saladin genug bedroht, um das Stück zu verbieten. Nach dem Krieg aber sank Lessings Stück herab zur postmodernen Metapher für die Nichtexistenz der Wahrheit. Kein Ring war echt und so sollte jeder glauben, wie er wollte. Doch ohne singuläre Wahrheit sind alle Wahrheiten gleich gültig. Die Gleichgültigkeit aber, die daraus resultiert, macht das Denken ähnlich eng und dumm, wie die Eindeutigkeit der Formeln und Befehle. Hier zeigt sich, wovon weder die Fundamentalisten noch die Säkularisten einen Begriff haben: Dass jene Wahrheit, über die nichts Grösseres gedacht werden kann, nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden kann. Die Angst des religiösen Menschen, dass er nicht genug Glauben hat, gründet darin, dass er ständig in der Gefahr steht, seinen Glauben durch Gewissheit oder Gleichgültigkeit zu ersetzen. Wenn es bei Lessing bezogen auf dieses Streben heisst, «jeder eifere», dann sollte damit aber nicht der Wettbewerbseifer ums Gute gemeint sein. Steckt doch im Monotheismus als dem universellen und unteilbaren Prinzip gerade das Verbot der Konkurrenz, die die Menschen in Sieger und Verlierer teilt.

Unter den Bedingungen des religiösen Pluralismus kommt alles darauf an, dass der eine Gott, die eine Wahrheit auch in jeder Religion umfassend präsent ist. Wenn die Wahrheit einerseits unteilbar ist und doch in ganz unterschiedlicher Gestalt erscheint, dann bedeutet das, dass sich nur jene Religionen, in denen über die Zeiten hinweg auch alle Wahrheiten der anderen Religionen zu finden sind, wahre Religion nennen können. In Perry Schmidt-Leukels grosser interreligiöser Theologie heisst es dazu lapidar: «Interreligiöse Theologie ist nur möglich, wenn sie von der Annahme ausgeht, dass theologisch relevante Wahrheit […] sich auch in anderen Religionen findet.»1 Der Eifer der Gläubigen ist der Wunsch, im eigenen Glauben immer tiefer und weiter zu kommen und nicht eher zu ruhen, bis sie die ganze Wahrheit in ihrer Religion gefunden und ausgefaltet haben. Mit Eifer sind sie darauf bedacht, jegliche Engführung in Glaube und Religion zu verhindern. Sie wachen darüber, dass die Vielfalt der Tradition nicht verloren geht und beleben Vergessenes und Verdrängtes. Erst durch Neugier und Lernen von den anderen können sie sicher sein, bei sich alles Gute, das es gibt, entdeckt zu haben.

Der echte Ring – ein Vermählungsring

Freilich findet sich, wo es einen echten Ring gibt, auch der falsche, ist dieser von jenem nicht zu trennen, sprich: Die Wahrheit gibt es nicht ohne Gegenstück. Doch dank der Erfahrung mit Fake News wissen wir: Die Erkenntnis der Unwahrheit ist nicht die Voraussetzung, sondern die Folge des rechten Glaubens. So fusst, weil es heute oft keine automatische religiöse Zugehörigkeit mehr gibt, der Glaube auf einer mehr oder weniger zufälligen Wahl, in der sich die ganze Wahrheit nur finden lässt durch die Treue zur einmal gefassten Neigung. Der echte Ring ist nichts anderes als ein Vermählungsring. Weil wir alle Ebenbilder Gottes sind, kann zwar die rechte Lebensweise auf viele Arten gelingen, faktisch aber erreichen wir die nötige Tiefe und Breite nur in der Bindung an das Eine. Erst die dauerhafte Konzentration auf den gewählten Ring bringt dessen Wahrheit zum Leuchten. So lautet die Lehre der Ringparabel heute: Nimm einen Ring und eifere, dass du seine spezifische Wahrheit erkennst. Und siehe, es erscheint darin die Wahrheit der anderen.

Rolf Bossart

 

 

1 Schmidt-Leukel, Perry, Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie, Gütersloh 2019, 206.

 


Rolf Bossart

Dr. theol. Rolf Bossart (Jg. 1970) ist Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen im Fachbereich Ethik, Religionen, Gemeinschaft sowie Publizist.