Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

Vom Runden Tisch für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen

Nach intensiver Arbeit von anderthalb Jahren wurden am 1. Juli 2014 der Bericht und die Massnahmenvorschläge des Runden Tisches für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Beisein von Bundesrätin Simonetta Sommaruga der Öffentlichkeit vorgestellt. Was sind die Hintergründe für eine solche Form der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels Schweizer Sozialgeschichte?

Die Schweiz hat weggeschaut

Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz Kinder und Jugendliche ohne formalen richterlichen Beschluss in Heime eingewiesen, bei Bauern verdingt, unter Zwang den Eltern oder Müttern weggenommen und zur Adoption freigegeben. Manche von ihnen wurden zwangssterilisiert oder zwangskastriert, andere wurden in psychiatrische Anstalten eingewiesen, und nicht selten wurden an ihnen Medikamentenversuche vorgenommen. Diese Vorkommnisse liegen zeitlich noch nicht lange zurück, und doch ist es für uns kaum mehr vorstellbar, dass Kinder auf Dorfplätzen versteigert, zur Kinderarbeit gezwungen, misshandelt und missbraucht wurden. Heute noch leben viele der Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen unter uns. Sie tragen schwer an dem Leid, das ihnen und ihren Familien zugefügt wurde. Vor allem Menschen, die den früheren gesellschaftlichen und moralischen «Wert»-Vorstellungen nicht entsprachen, arm oder randständig waren, wurden Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Lange wollte die Schweiz diesem düsteren Kapitel ihrer eigenen Geschichte nicht in die Augen schauen. Auf politischer Ebene gab es zwar in den letzten Jahrzehnten einzelne Vorstösse, sich dieser Geschichte zu stellen (z. B. Kinder der Landstrasse, Zwangssterilisierungen), aber eine umfassende Aufarbeitung ist bislang nicht erfolgt. Erst in den letzten Jahren wurde diese Vergangenheit von den Betroffenen selbst, von Politikern, Wissenschaftlern und Medienschaffenden verstärkt aufgegriffen, so dass diese Problematik doch zu einem Thema auch auf Bundesebene geworden ist. Am 10. September 2010 fanden in Hindelbank und am 11. April 2013 in Bern Gedenkanlässe statt, an denen Vertreter und Vertreterinnen des Bundes, der Kantone, der Städte und Gemeinden, der Kirchen, des Bauernverbands und der Heimverbände die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen für das ihnen angetane Unrecht um Entschuldigung gebeten haben. Die Zahl der heute noch lebenden Betroffenen ist nicht ausreichend bekannt. Viele haben heute erst die Kraft, über ihr eigenes Schicksal zu reden und in die Öffentlichkeit zu treten. Es gibt verschiedene Schätzungen, die allerdings weit auseinandergehen und deshalb kaum als einigermassen gesichert gelten können. Es wird Aufgabe der wissenschaftlichen Aufarbeitung sein, diesbezüglich Licht ins Dunkel zu bringen. Der Runde Tisch geht davon aus, dass mit etwa 15 000 bis 25 000 noch lebenden betroffenen Personen zu rechnen ist.

Der Runde Tisch

Im Anschluss an den Gedenkanlass vom 11. April 2013 hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga dem Delegierten für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen den Auftrag erteilt, den Runden Tisch für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen einzuberufen. Gemeinsam sollten Betroffene und ihre Vertreterinnen und Vertreter sowie Vertreterinnen und Vertreter von Behörden (Bund, Kantone, Städte und Gemeinden), der Heime, der Kirchen und des Bauernverbandes Vorschläge erarbeiten, die eine Aufarbeitung und eine angemessene Anerkennung des geschehenen Leids ermöglichen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, das Suchen nach den Gründen für das Wegschauen grosser Teile der Schweizer Bevölkerung und die Konfrontation mit den Umständen der eigenen Geschichte sind für die Betroffenen ein schmerzhafter Prozess. Heimeinweisungen, Fremdplatzierungen bei Bauern, Erfahrungen von Gewalt und Ohnmacht, sexuelle Missbräuche – beides nicht selten in kirchlich geführten Heimen – haben ihr Leben und das ihrer Angehörigen bis heute geprägt. Viele von ihnen leiden bis heute darunter, dass sie lange nicht über das erfahrene Leid sprechen konnten. Wenn sie es doch taten, wurde ihnen häufig nicht geglaubt und das erfahrene Unrecht der eigenen Schuld angelastet.

Die Vertreterinnen und Vertreter der am Runden Tisch beteiligten Institutionen hatten es ebenfalls nicht leicht. Sie mussten anerkennen, dass ihre Institutionen und Verbände ihrer Aufsichtspflicht nur viel zu selten nachgekommen sind und dass sich in ihren Einrichtungen Vorfälle ereignet haben, die unter keinen Umständen zu rechtfertigen sind. So war auch der Austausch zwischen den Betroffenen und den Vertretern von Institutionen nicht unbelastet, das persönlich erfahrene Leid musste ausgesprochen werden. Da sich zahlreiche Heime und Schulen in kirchlich verantworteter Trägerschaft befanden und auch gewalttätige und sexuelle Übergriffe aus kirchlich geführten Heimen und Schulen bekannt geworden sind, waren auch Vertreter der Kirchen eingeladen, sich der Arbeit am Runden Tisch zu stellen. Die Vorwürfe gegenüber den Kirchen waren entsprechend massiv.

Gleichzeitig wurde von Seiten der Betroffenen aber auch anerkannt, dass mehrere Ordensgemeinschaften (Ingenbohl, Einsiedeln, Engelberg usw.), Landeskirchen und Bistümer bereits Zugang zu ihren Archiven gewährt und unabhängige Expertenkommissionen zur Aufarbeitung der jeweiligen Vorwürfe eingerichtet hatten. Für die Erziehungsheime in den Klöstern Fischingen und Rathausen, die in der Öffentlichkeit schwerwiegenden Vorwürfen ausgesetzt waren, liegen inzwischen die Abschlussberichte vor. Viele Vorwürfe werden darin bestätigt. Es zeigt sich aber auch, dass es neben den Verfehlungen einzelner Personen ein gesamtgesellschaftliches Problem war, dass Verantwortlichkeiten abgeschoben und Vorwürfe nicht ernst genommen wurden. Die Kinder und Jugendlichen in den Heimen waren so etwas wie Menschen zweiter Klasse. Das Geschehene kann nicht rückgängig gemacht werden. Die Gespräche und die Arbeiten des Runden Tisches waren dennoch weitgehend von der Bereitschaft der Beteiligten zu einer guten, konstruktiven Zusammenarbeit geprägt, und sie waren getragen von der gemeinsamen Überzeugung, dass eine umfassende Aufarbeitung der Problematik unabdingbar ist. Bischof Markus Büchel hat bei seiner Rede am 11. April 2013 herausgestrichen, dass «die Wahrheit des erfahrenen Leides (…) ausgesprochen und von uns allen anerkannt werden [muss]. Denn was geschehen ist, betrifft letztlich uns alle. Es ist nicht gut, wenn das geschehene Unrecht unverarbeitet, unausgesprochen und unversöhnt unsere Gesellschaft belastet. Dies steht zudem im Widerspruch zu dem, was uns die Präambel unserer Verfassung sagt: ‹Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.› Erst recht steht es im Widerspruch zum Wort Jesu, auf den wir christlichen Landeskirchen uns immer wieder berufen: ‹Was ihr den Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Was ihr den Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.›»

Massnahmen und Vorschläge des Runden Tisches

Die Vertreterinnen und Vertreter der Betroffenen und Institutionen am Runden Tisch sind sich einig, dass die Anerkennung des geschehenen Unrechts an Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen Ausgangspunkt für alle weiteren Vorschläge sein muss. Die Massnahmen und Vorschläge des Runden Tisches betreffen folgende Bereiche (weitere Details finden sich in den Massnahmenvorschlägen des Berichts)

  • Beratung und Betreuung
  • Akteneinsicht / Aktensicherung / Bestreitungsvermerke
  • Finanzielle Leistungen
  • Wissenschaftliche Aufarbeitung
  • Öffentlichkeitsarbeit / gesellschaftliche Sensibilisierung
  • Organisatorische Fragen

Im Rahmen der bereits bestehenden Möglichkeiten konnte in Zusammenarbeit mit der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK in beinahe allen Kantonen Anlaufstellen geschaffen werden. Diese unterstützen die Betroffenen bei der Aufarbeitung der eigenen Geschichte und sind bei der Vermittlung von Kontakten zu Behörden und Archiven behilflich. Eine Adressliste mit den Anlaufstellen findet sich auf der Webseite des Delegierten für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (www.fuersorgerische zwangsmassnahmen.ch). Seit der Runde Tisch seine Arbeit aufgenommen hat, ist eine Liste aller Staatsarchive auf der Webseite des Delegierten aufgeschaltet. Ende 2013 hat die Schweizerische Archivdirektorinnen- und Archivdirektorenkonferenz ADK Empfehlungen für Betroffene und Behörden betreffend Aktenzugang und Aktensicherung erlassen. Diese sind auch für kirchliche Archive bindend und ebenfalls auf der Webseite des Delegierten verfügbar. Die Opfer, die sich heute in einer schwierigen finanziellen Lage befinden, benötigen rasche und unbürokratische Hilfe. Dafür hat der Runde Tisch einen Soforthilfefonds errichtet, an dem sich auf freiwilliger Basis Kantone, Städte und Gemeinden, Institutionen und Organisationen sowie Private beteiligen können.

Die Schweizer Bischofskonferenz empfiehlt für diesen Soforthilfefonds im kommenden Jahr ein schweizweites Opfer. Betroffene können heute bereits Gesuche einreichen. Die ersten Auszahlungen werden im September 2014 erfolgen. Zu den Kernpunkten der Massnahmenvorschläge des Runden Tisches zählen die finanziellen Leistungen, die helfen sollen, das erlittene Unrecht zu mildern, auch wenn sie das Geschehene nicht ungeschehen machen können. Sie sind ein wichtiges Zeichen der Anerkennung des Unrechts und der Solidarität mit den Opfern. Diese finanziellen Leistungen sollen aus zwei Komponenten bestehen, nämlich aus einer einmaligen Kapitalleistung sowie aus regelmässigen monatlichen Zahlungen ab Eintritt in die AHV. Diese beiden Formen von Leistungen bilden zusammen ein Gesamtpaket. Zur Finanzierung der einmaligen Kapitalleistung und des AHV-Zuschlags für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen soll ein Solidaritätsfonds geschaffen werden, die Ausgestaltung obliegt Bund und Kantonen.

Die Opfer im Blick haben

Die Massnahmenvorschläge des Runden Tisches betreffen die gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der jüngeren Schweizer Geschichte. Es ist mit heftigen Auseinandersetzungen zu rechnen. Wir dürfen dabei jedoch nie aus den Augen verlieren, um wen es dabei geht und gehen muss: Es geht um Menschen, denen als Kinder und Jugendliche schweres Leid und Unrecht zugefügt worden ist, unter deren gesundheitlichen und finanziellen Folgen sie oft bis heute leiden. Wenn die Stärke eines Volkes sich am Wohl der Schwachen misst, dann liegt es heute in unserer Verantwortung, solidarisch den Opfern beizustehen.

 

 

Wolfgang Bürgstein

Wolfgang Bürgstein

Der Ökonom und Theologe Wolfgang Bürgstein arbeitet seit März 2003 bei der Schweizerischen Nationalkommission Justitia et Pax. Er ist deren Generalsekretär.