Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen

Ein Überblick 

Verding-, Kost- oder Pflegekinder / Heimkinder (Fremdplatzierungen)

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden in der Schweiz Kinder und Jugendliche aus wirtschaftlichen Gründen oder mit moralisch begründeten Argumenten bei Privaten (Verding-, Kost- oder Pflegekinder) oder in geschlossenen Institutionen (Heimkinder) fremdplatziert. Platzierende Instanzen waren neben Gemeinde- und Kantonsbehörden auch private Organisationen. Die Kinder und Jugendlichen stammten aus armutsbetroffenen Familien, oder sie waren Waisen, Halbwaisen oder unehelich geboren. Ob ein Kind in eine Familie oder in ein Heim kam, hing nicht selten vom Zufall, von der Verfügbarkeit, aber auch den finanziellen Möglichkeiten ab. Neben kantonalen und kommunalen Trägerschaften wurden viele geschlossene Institutionen von privaten und kirchlichen Initianten geführt. Bei der Unterbringung bei Privaten (meist Bauernfamilien) stand nicht selten die Arbeitsleistung eines Kindes im Vordergrund, ein Familienanschluss war in vielen Fällen nicht vorgesehen. Immer wieder kam es vor, dass fremdplatzierte Kinder und Jugendliche Opfer von Gewalt und Missbrauch wurden, welche aufgrund mangelhafter Umsetzung bestehender Gesetze und vorgeschriebener Kontrolle oder Abgeschiedenheit der aufnehmenden Familien/Anstalten nicht geahndet wurden. Daneben sind auch Fälle bekannt, bei welchen an fremdplatzierten Kindern sowie an Patienten von psychiatrischen Anstalten Medikamentenversuche durchgeführt worden sind.

Administrative Versorgungen

Jugendliche und Erwachsene konnten von Verwaltungsbehörden bis 1981 ohne Gerichtsurteil und ohne Rekursmöglichkeit auf unbestimmte Zeit zur «Nacherziehung» oder «Arbeitserziehung» in geschlossene Institutionen, unter anderem auch in Strafanstalten, eingewiesen werden. Als Begründung reichte beispielsweise ein zu häufiger Stellenwechsel oder die Schwangerschaft einer ledigen Frau. Die Betroffenen konnten sich in der Regel zu den Vorwürfen nicht äussern und verfügten über keine Rechtsmittel, um sich gegen diese Massnahmen zu wehren.

Eingriffe in die Reproduktionsrechte

Bis in die 1970er-Jahre wurden in der Schweiz aus sozialhygienischen und wirtschaftlich-sozialen Gründen Zwangssterilisationen und -kastrationen sowie Zwangsabtreibungen durchgeführt. Die Sterilisation oder Kastration durfte zwar in der Regel nur mit der Einwilligung der oder des Betroffenen geschehen. Um diese Einwilligung zu erhalten, wurde in vielen Fällen Druck, etwa durch die Androhung des Entzuges von Unterstützungsleistungen, ausgeübt. Auch einer Abtreibung wurde vielfach erst dann zugestimmt, wenn die betroffene Frau in die gleichzeitige Sterilisation einwilligte.

Zwangsadoptionen

Die Praxis, dass Vormundschaftsbehörden Mütter von ihren Neugeborenen trennten, und die Kinder, gegen den Willen ihrer Mütter, zur Adoption freigaben, existierte in der Schweiz bis in die Siebzigerjahre. Begründet wurde dies damit, dass die Mütter z. B. minderjährig oder ledig waren, sie aus ärmlichen Verhältnissen stammten, angeblich ein «liederliches Leben» führten oder ihre Männer Alkoholiker waren oder als «arbeitsscheu» galten. Zwar war bei Adoptionen eine schriftliche Einwilligung von Seiten der betroffenen Frauen notwendig. Dokumentierte Fälle weisen aber darauf hin, dass Frauen die Adoptionserklärung oft unter grossem Druck unterschrieben, obwohl sie nicht damit einverstanden waren. Man spricht deshalb von «Zwangsadoptionen».

Fahrende

Zwischen 1926 und 1973 hat das private «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» mit behördlicher Unterstützung über 600 jenische Kinder ihren Eltern weggenommen und zwangsweise sesshaft gemacht. Die Kinder wurden von ihren Eltern und Geschwistern isoliert und zur Adoption freigegeben oder fremdplatziert. Fälle von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch waren keine Seltenheit.

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Infos unter www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch

Soforthilfe für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder anderer Fremdplatzierungen bis 1981: Diese kann ab sofort von Geschädigten mit finanziellen Verhältnissen, die sie zum Empfang von Ergänzungsleistungen berechtigen würden, beantragt werden.

Direktbetroffene haben die Möglichkeit, sich an die von den Kantonen bezeichneten Anlaufstellen zu wenden.

Die Schweizerische Archivdirektorenkonferenz ADK veröffentlichte eine Handreichung zur Sicherung der Aktenlage und zur Orientierung. Für Bistums- und Pfarreiarchive oder Archive kirchlicher Organisationen, die davon betroffen sein können, sind die Staatsarchive gute Auskunftsstellen. (ufw)

Luzius Mader

Stellvertretender Direktor im Eidgenössischen Justizund Polizeidepartement (EJPD), ist Delegierter für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.