Zuversicht und Zaghaftigkeit

Zwei Päpste, grundverschieden und doch eins

Nur genaue Kenntnis dessen, was vorgeht und dessen, was vergangen ist, ermöglicht eine entschiedene Haltung in der Gegenwart und eine klare Sicht in die Zukunft – das wusste der Kirchenhistoriker Angelo Giuseppe Roncalli (1881–1963), später Papst Johannes XXIII., sehr wohl. Ein klarsichtiger Analytiker war auch Giovanni Battista Montini (1897–1978), später Papst Paul VI., doch er verfügte nicht über die robuste Selbstsicherheit und Ruhe wie sein Vorgänger, mit dem er aber sehr freundschaftlich verbunden war. Ein nun veröffentlichter Briefwechsel, der sich über 38 Jahre erstreckt, lässt uns ein wenig in die Seele dieser beiden Männer der Kirche schauen, die sich zunächst rein amtlich zugeordnet sind, aber in Schlichtheit zu einer tiefen Freundschaft zueinander finden (Angelo Giuseppe Roncalli / Giovanni Battista Montini: Lettere di fede e di amicizia (1925–1963). A cura di Loris F. Capovilla e Marco Roncalli. [Istituto Paolo VI / Edizioni Studium] Brescia-Roma 2013, XXXVIII + 310 Seiten, ill.).

Am 12. September 1959 schrieb der Erzbischof von Mailand Giovanni Battista Montini Papst Johannes XXIII. als Dank für einen handschriftlichen Brief: «Er lässt mich an der hohen Heiterkeit teilhaben, die vom Himmel der Vorsehung aus sich über die Person und das Wirken Eurer Heiligkeit ergiesst, die aber meinem Geist so oft abgeht, der von der Sicht auf diese Welt bedrückt ist, der Licht und Heil zu geben meine Kräfte so unangemessen sind» (S. 214).

Eine kostbare Briefedition

Die Herausgabe der 201 Briefe (von kurzen Telegrammen, knappen Worten bis ausführlichen Darlegungen) ist ausserordentlich sorgfältig und steht unter einem besonders guten Stern: Der eine Herausgeber ist der frühere Privatsekretär von Johannes XXIII., der spätere Erzbischof Loris F. Capovilla (geboren 1915 und durchaus noch aktiv) und der Grossneffe von Johannes XXIII., Marco Roncalli (geboren 1959), der geisteswissenschaftliche und juristische Studien bis zur Promotion abgeschlossen hat; seit Jahrzehnten hat er sich als genauer Forscher und Herausgeber von Quellen und als Darsteller kirchengeschichtlicher Themen ausgezeichnet. Die Mehrzahl der vorliegenden Briefe war bis anhin unbekannt. Sie sind aufgrund der erhaltenen Originale oder Kopien aus den verschiedenen Archiven buchstabengenau wiedergegeben und zusätzlich mit allen wünschenswerten Ergänzungen versehen aus anderen Quellen (Tagebuch des einen Papstes, Archiv-Notizen des anderen, Auszüge aus Briefen der irgendwie mitbeteiligten Personen, v. a. der vatikanischen Kurie). Der einzige Tadel, der auszusprechen ist: V. a. französische Wörter, Namen, Buchtitel sind kaum ohne Fehler reproduziert – ein Übel allzu vieler italienischer wissenschaftlicher Texte (auch französischer, für andere Fremdsprachen).

Die Etappen zweier Lebensläufe

Ausser einem ersten Brief von 1925 beginnt der eigentliche Briefwechsel 1938 zwischen dem damaligen Apostolischen Delegaten Roncalli in der Türkei (seit 1935) und dem neuen Substituten Montini im vatikanischen Staatssekretariat. Die Themen spielen zwischen einem Beileidstelegramm Montinis wegen des Todes der Mutter von Roncalli bis zu vertraulichen Angaben Roncallis über Gespräche mit dem deutschen Gesandten in Istanbul, Franz von Papen, und Auskünften über einen vertrauenswürdigen deutschen Beamten, Baron von Lersner, oder über die Teilnahme am Gedenkgottesdienst für den polnischen Exilgeneral Sikorski. Aber die Tätigkeit Roncallis erschöpft sich nicht in diplomatischen Schritten: Er liest zum Abendessen mit einem Mitarbeiter an der Nuntiatur aus den Schriften des englischen geistlichen Schriftstellers F. W. Faber über das «Wohlwollen» und notiert dazu: «Ich will weiterfahren im ruhigen Bemühen, vor allem gut und wohlwollend zu sein, ohne Schwächen, aber zusammen mit Durchhaltewillen und Geduld mit allen. Das Ausüben der pastoralen und väterlichen Güte – pastor et pater – muss das ganze Ideal meiner bischöflichen Tätigkeit zusammenfassen» (S. 5, Anm. 1). Roncalli blieb durch alle Etappen seines Lebens der priesterliche Mitmensch aller, die ihm begegneten.

In der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember 1944 wurde er telegrafisch von der Versetzung nach Paris orientiert, wo er am 1. Januar als Dekan das diplomatische Korps beim Neujahrsempfang zu präsidieren hatte. Die kirchliche Situation nach der Befreiung Frankreichs war heikel, General de Gaulle hatte von Pius XII. schon den Rückzug des Nuntius und mehrerer Bischöfe verlangt, die mit der Regierung von Vichy «zusammengearbeitet» hatten; da brauchte es einen taktvollen, aber energischen Nuntius, den man in Roncalli verwirklicht sah. Mit seinem diplomatischen Geschick und seiner ungekünstelten Menschlichkeit gelang es ihm, gedeihliche Beziehungen aufzubauen; drei Bischöfe traten freiwillig zurück und ebneten den Weg zu friedlicher Tätigkeit.

Pius XII. war ein genauer Chef: Er fand, dass Roncalli sich etwas zu häufig zu Anlässen ausserhalb von Paris einladen lasse und dass seine schriftlichen Berichte ein wenig zu knapp seien; er sagte ihm das in einer Audienz und liess es ihn auch durch Montini schriftlich wissen. Roncalli antwortete, dass es ihm eigentlich darum gehe, als Vertreter des Papstes für den Papst positiv einzustehen und die Liebe zu ihm im Volk und Klerus zu verstärken, und das sei auch durchaus der Fall. Es ist auffällig, dass Roncalli den Papst – vielleicht aus taktischen Gründen – derart in den Vordergrund stellt, es geht immer primär um Papst und Kirche, nicht um Christus («Glaube an den Papst und Liebe zu ihm»). Der Nuntius muss auch wahrhaftig dem Papst persönlich den Ferienplan seiner Mitarbeiter in der Nuntiatur unterbreiten und von ihm genehmigen lassen; die Möglichkeit, dass der Nuntius selbst dafür sorgen könnte, dass die Nuntiatur immer irgendwie besetzt bleibe, schien dem Papst nicht vor Augen zu stehen. Spätere Audienzen mit Pius XII. scheinen friedvoller und fruchtbarer abgelaufen zu sein. 1947 riet Roncalli dem 50-jährigen Montini, auf seine Gesundheit zu achten, sie sei allen Respektes wert, «mens sana in corpore sano»!

Von 1944 an liess der Papst das Staatssekretariat unbesetzt, zwei Substitute bzw. dann Pro-Sekretäre (Montini und Tardini) mussten die mühsame Arbeit übernehmen.

Am 10. November 1952 erfährt Roncalli wiederum überraschend, dass er anstelle des im Sterben liegenden Patriarchen von Venedig dorthin versetzt werde, und gleich darauf wird ihm das Kardinalat angekündigt, was er trocken kommentiert: «Unter den Kardinälen gab es Schlaumeier [das Wort «birboni» kann auch «Halunken» bedeuten] und Heilige, ich will zu letzteren gehören in aller Demut, in Schlichtheit, in der Liebe zu Gott und den Seelen zur Zierde der Heiligen Kirche» (S. 103). In dieser Haltung bleibt er in Venedig bis zur Papstwahl am 28. Oktober 1958, ja eigentlich bis zu seinem Tod am 3. Juni 1963.

Einige Charakterzüge

Am 1. November 1954 wurde Montini von Pius XII. zum Erzbischof von Mailand ernannt und am 12. Dezember von Kardinal Tisserant (der Papst war krank) zum Bischof geweiht, aber nicht zum Kardinal erhoben; das besorgte Johannes XXIII. in seinem ersten Konsistorium, mit dem Namen Montinis an erster Stelle, ziemlich auffällig; das hatte er ihm schon, noch unter Geheimhaltung, am 4. November 1958, vor der Zeremonie der Papstkrönung, angekündigt. Schon vor dem Konzil bemerkte Montini mit Sorge den Rückgang der Kandidaten für das Priesteramt.

Bei Roncalli fällt auf, wie sehr er an seinen einfachen Ursprüngen in der grossen Bauernfamilie hängt, er verbringt seine Ferien bis zur Papstwahl in seinem Heimatdorf. So liegt ihm auch die Diözese Bergamo sehr am Herzen, in der er aufgewachsen ist, er kann von dort aus in der Ferne den Dom von Mailand erblicken, und später widmet er seine ganze Kraft der Lagunenstadt Venedig. Als zweites sticht seine kirchengeschichtliche Kenntnis heraus, worüber Montini wie folgt urteilt: [man findet bei ihm] «die Vielseitigkeit des Geistes und die Arbeitskraft eines Mannes der Kirche, der fähig ist, mit seltener Ausdauer und wunderbarer Unbefangenheit die Sorge einer päpstlichen Vertretung im Ausland mit einer sorgfältigen und arbeitsintensiven Archivtätigkeit zu verbinden; er zeigt so, wie ein höchster Würdenträger der Kirche es versteht, zugleich diplomatisch zu wirken und wissenschaftlich zu arbeiten» (1958, S. 192, Anm. 6); Montini bezieht sich hier auf die fünf Bände, die Roncalli über die Pastoralvisiten von Karl Borromäus in der Diözese Bergamo von 1936 bis 1958 herausgegeben hat. Man begreift, dass Johannes XXIII. einigermassen erbost ist, dass ein Gelehrter in einem Artikel über die Seelsorge von Karl Borromäus diese fünf Bände nicht im geringsten erwähnt (Januar 1962).

Roncalli gesteht neidlos zu, dass er nie so geistig tiefe und stilistisch so gewandte Hirtenbriefe schreiben könnte wie Montini. Überhaupt fällt die hohe Bedeutung der italienischen (und lateinischen) Sprache auf, die der Kirchenleitung von damals (weitgehend italienisch geprägt) eigen war. In dieses Kapitel fällt auch der Kurialstil, der von barocken Floskeln wimmelt, die heute kaum mehr nachvollziehbar sind, aber eigentlich gar keinen Inhalt haben, sondern einfach die Ranghöhe der beteiligten Partner kennzeichnet. Vor einem Kardinal «fällt man auf die Knie und küsst den heiligen Purpur (oder den heiligen Ring) und verbleibt mit den aller-untertänigsten, -ergebensten, -demütigsten Gefühlen usw.», und vor dem Papst «küsst man den heiligen Fuss». Johannes XXIII. kann seinem befreundeten Montini schon einmal schreiben: «Mein lieber Herr Kardinal» («Mio caro signor Cardinale»). Einige mehr offizielle Briefe wurden natürlich von den Kurienbeamten verfasst und verbleiben im jahrhundertealten Stil, die persönlichen sind schlichter und offener. Die hohe Bedeutung der Sprache und ihre sorgfältige Pflege ist bedenkenswert.

Weiter fällt an Roncalli auf, wie sorgfältig er die Fähigkeiten der Mitarbeiter einzuschätzen vermag. Wenn es darum geht, sie weiter zu befördern, charakterisiert er sie ganz präzis, vermeidet aber nicht, «einige Fehlerchen» zu erwähnen («wer hat schon solche nicht?»). Anderseits war er auch klug in Bezug auf offizielle, öffentliche Personen. Von ihm sagte der Jesuit Roberto Tucci von der «Civiltà Cattolica »: «Er zieht es [im Vergleich mit Pius XII.] vor, sich von den Politikern nicht einfangen zu lassen; er will ihnen schon gar nicht begegnen, denn jeder versucht, den Papst auf seine Seite zu ziehen, sie suchen doch im Grunde nur ihr persönliches Interesse.»

Die Wurzeln Roncallis

Bedenkenswert ist auch, wie Roncalli eigentlich ganz im Frömmigkeitsstil seiner Jugend und priesterlichen Erziehung verwurzelt bleibt. Er hat ein ganz unbefangenes Verhältnis zu Gott, zu Maria, zu den Heiligen, seine Frömmigkeit ist völlig ehrlich und tief. Trotzdem sieht er die Entwicklung, die sich abzeichnet, nicht so negativ, nicht so sorgenvoll, wie Montini sie beurteilt. Auch Roncallis Verhältnis zur Kirchenstruktur, zur Hierarchie, zu den Dogmen ist ganz spontan und in sich selbst ruhend, die Dogmatisierung der Himmelfahrt Mariens ist für ihn Anlass zu hoher Freude, grosse kirchliche Anlässe wie Wallfahrten, Prozessionen, Heiligsprechungen usw. finden seine volle Zustimmung und Aufmerksamkeit. Sein Wahlspruch «Oboedientia et Pax» (Gehorsam und Friede) lassen ihn in jeder Situation sein Gleichgewicht bewahren; was der Papst bestimmt, das gilt, daran ist nichts zu rütteln (er macht es dann als Papst seinen Untergebenen leichter als sein Vorgänger). Aber er weigert sich, den geliebten Karl Borromäus zum Kirchenlehrer zu erheben: Dieser sei ein hervorragender Hirte gewesen, aber kein «Doctor Ecclesiae» im eigentlichen Sinn.

Das Konzil

Natürlich ist das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) eine wesentliche Erfahrung, Montini ist zunächst auch erstaunt über die Ankündigung, vertritt dann aber die Idee mit aller Energie (und wird auch in die Vorbereitung mit einbezogen); er kann ja nicht wissen, dass er es als Papst weiterführen soll. 1962 betont er in einer Homilie anlässlich einer Marienwallfahrt, das angekündigte Konzil sei ein Ereignis von unschätzbarer Bedeutung, aber «es hat sich die Meinung verbreitet, das Konzil erleichtere die Beobachtung der kanonischen Vorschriften, die Gebetsformen und die christliche Aszese würden vereinfacht, das Gewicht der religiösen Treue werde leichter. Das Konzil wird gewiss Erneuerungen bringen, die den Bedürfnissen und dem Geist der heutigen Zeit entsprechen, es wird die Kirche im bewundernswerten Aussehen der immerwährenden Jugend zeigen, es wird den Glauben zu einer Kraft der Anziehung und der Liebe machen, aber es wird die Mahnung des heiligen Paulus nicht vergessen: ‹Das Kreuz Christi soll nicht seines Sinnes entleert werden›» (1 Kor 1,17) (S. 272 f., Anm. 1).

Der Kurienalltag

Man wird anhand dieser Briefe auch einigermassen darüber belehrt, wie die vatikanische Kurie «läuft» (bzw. damals funktioniert hat). Sie kommt mit wenig Personal aus (Roncalli meint einmal, es tue ihm leid zu sehen, wie hervorragende Leute hier überlastet sind wie im Zuchthaus), sie arbeitet sorgfältig (wer einmal in den Vatikanischen Archiven gearbeitet hat, kann das bestätigen: altmodisch, aber wunderbar organisiert), viele Mitarbeiter sind priesterlich gesinnte Menschen, die ihre Aufgabe pflichtbewusst erledigen und z. T. dann weiter befördert werden (so kommt in diesem Buch mehrfach auch der Schweizer Bruno Heim vor, den Roncalli in Paris schätzen gelernt hat). Erstaunlich ist das Namensgedächtnis Roncallis: Nach Zusammenkünften (Essen usw.) kann er am Abend alle Teilnehmer mit Namen und Titel in seinem Tagebuch eintragen. In dieser Korrespondenz findet man keinen Seufzer über die Kirchenadministration, alles wird mit grösster Selbstverleugnung besorgt, aber Roncalli als Nuntius und Patriarch und Montini als einfacher Substitut, Pro-Sekretär und dann Erzbischof sind auch hervorragende Persönlichkeiten, jeder auf seine Art, die sich bestens ergänzen und hoch schätzen. Das vorliegende Buch verdient höchste Aufmerksamkeit.

 

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).