Friede und Erbarmen über Israel

14. Sonntag im Jahreskreis: Gal 6,14–18 (Jes 66,10–14c; Lk 10,1–12.17–20 oder 10,1–9

Manchmal lassen wenige Worte tief blicken. Eine scheinbar beiläufige Bemerkung kann unter Umständen genauso viel über die Beweggründe, Geistes- und Glaubenshaltungen eines Menschen enthüllen wie eine ganze Rede. Wir haben das in den letzten Monaten bei Papst Franziskus erlebt: Sein «buona sera» nach seiner Wahl, das «buon pranzo» nach dem Angelus oder auch der von seinem Sprecher wiedergegebene Satz, er wolle «ein normales Zusammenleben mit anderen ausprobieren» (und deshalb weiter im vatikanischen Gästehaus wohnen), haben Aufsehen erregt – weil diese wenigen Worte ein unerwartetes Tor zu seiner Gedankenwelt aufgestossen haben und einen Bischof von Rom erahnen lassen, der die «Freuden und Sorgen, Hoffnungen und Ängste» vieler Menschen tatsächlich teilt.

Wie werden wir – Seelsorgende, Theologinnen, Priester, Gemeindeleitende – in unserer beruflichen Kommunikation greifbar? Speisen wir die Menschen, mit denen wir in Kontakt sind, mit theologisch-pastoralen Allgemeinplätzen ab? Oder machen wir uns kenntlich, indem wir uns selbst als suchende, fragende, hoffende, scheiternde, glaubende, zweifelnde, liebende Menschen mit (auch theologischen) Vorlieben und (hinterfragbaren) Standpunkten offenbaren?

In den letzten Versen und zum Abschluss der Lesereihe aus dem Galaterbrief begegnet uns ein Paulus, der nicht nur, wie auch in 1 Kor 16,21 und Phlm 19, die Schlusssätze mit eigener Hand schreibt (6,11), sondern sich darin auch ohne Maske zeigt: persönlich, verletzlich, angreifbar (und auch selber bis in die letzten Worte hinein aufbrausend- kämpferisch) – aber nicht gleich-gültig. Und der in diesen Schlusssätzen besonders tief blicken lässt und fast nebenbei ein unverrückbares Fundament seines Lebens, Denkens und Glaubens offenbart, das im Gal ansonsten fast unterzugehen drohte und das es ihm nicht gerade leicht macht, die Argumentationslinien seines Briefes «durchzuhalten ». Umso bemerkenswerter, dass Paulus dieses Fundament seines Glaubens jetzt, im immer noch konflikthaften Briefabschluss, trotzdem explizit beim Namen nennt.

Gal 6,14–18 im jüdischen Kontext

Der (für mich) bemerkenswerteste Satz in Gal 6,14–18 besteht aus einem kurzen, «nachklappenden» Nebensatz, einer Beifügung von nur sechs griechischen Worten: «… und über das Israel Gottes» (6,16c). Zu ergänzen ist natürlich der Hauptsatz aus 6,16 ab, in dem Paulus allen, die sich seiner Meinung/«Richtschnur» (gr. kanón) anschliessen, «Friede und Erbarmen (Gottes)» verheisst. Doch das eigentlich Bemerkenswerte spielt sich eben im Nebensatz ab. Paulus kommt in diesen Versen zum letzten Mal auf den Konflikt um die soteriologische (Un-) Nötigkeit der Beschneidung für Anhänger des Messias Jesus zurück. Er hat es mit Gegnern zu tun, die die Jesus-Messias-Bewegung «jüdischer» (im Sinne von: «vollständiger toratreu») machen wollen, als er selbst – der Pharisäer! – das für richtig hält, und er hat in Gal ausführlich, teilweise polemisch gegen seine «judaisierenden», innergemeindlichen Gegner argumentiert und fasst seine Position in 6,15 noch einmal in kürzester Form zusammen. Was läge näher, als hier, im eigenhändig geschriebenen Schlussabschnitt des Briefes, eine weitere Spitze gegen die Heilsbedeutsamkeit der Tora zu platzieren, wie er das zuvor schon mehrfach getan hatte (vgl. 2,16 f.; 3,10 f.; 5,18)?

Doch Paulus wäre nicht Paulus, wenn er nicht gerade hier noch eine neue «Kurve» in seinen Gedankengang einbauen würde, die seine Argumentation nicht nur nicht stützt, sondern zugleich ihre Unabgeschlossenheit und Komplexität verdeutlicht. Paulus verheisst «Frieden und Erbarmen» nicht nur denen, die seiner Meinung folgen (6,16ab), sondern zudem ganz Israel, dem «Israel Gottes» (16c), also dem Mehrheitsjudentum, das die Tora entscheidend anders auslegt, als er selbst es aufgrund seiner Christusoffenbarung inzwischen tut – und das selbstverständlich auf der Einhaltung der ganzen Tora inklusive der Beschneidung besteht! Dass Paulus hier, im polemischen Umfeld des Gal, die grundlegende Anerkennung und Würdigung des toratreuen Israels als Israel Gottes, ohne Bekenntnis zum Messias Jesus, ohne jede Einschränkung zum Ausdruck bringt und an seinen unwiderruflichen heilsgeschichtlichen Status erinnert, ist ein Musterbeispiel für den aufrichtigen, konstruktiven Umgang mit Widersprüchlichkeiten, Differenz und theologischen Konflikten, das in der Theologie- und Kirchengeschichte leider nicht allzu oft Schule gemacht hat.

Im Widerspruch zu Gal 6,16 usurpierte die Kirche jedoch früh Israels heilsgeschichtliche Rolle, und ab Justins «Dialog mit Tryphon» (um 160 n. C hr.) sah sie sich selber oft explizit als «wahres Israel». Das «Israel Gottes» in Gal 6,16 wurde auf der Linie der vielfältigen Substitutionstheologien deshalb meist auf die Kirche bezogen, als ob da zu lesen wäre: «Friede und Erbarmen (…) über das (wahre) Israel Gottes, die Kirche». Bis heute ist die Auslegung dieses Verses umstritten. Für die hier vertretene Interpretation auf das Mehrheitsjudentum hin sprechen jedoch gewichtige Argumente: Paulus geht auch im Gal selbstverständlich von einer bleibenden heilsgeschichtlichen Vorordnung Israels aus. Zudem reserviert er den Begriff «Israel» in allen seinen Briefen eben für Israel und wendet ihn im Unterschied z. B. zur Abrahamskindschaft (vgl. Gal 3 f) und anderen heilsgeschichtlich relevanten Begriffen gerade nicht auf die jesus-messianische Bewegung an. Biblischer Sprachgebrauch (z. B. Ps 125,5; 128,6) kennt sehr ähnliche Formulierungen, wie sie Paulus in 16c verwendet, und schliesslich zeigen auch ausserbiblische Belege sowie Schriftfunde aus Qumran und der judäischen Wüste, dass ähnliche Satzstrukturen und Formulierungen, die am Textende einen Segenswunsch für Israel ausdrücken, in der frühjüdischen Literatur und insbesondere in Briefen durchaus typisch waren. Was Paulus hier in Gal 6,16 in wenigen Worten demnach andeutet, beschäftigt ihn zutiefst: In Röm 9–11 wird er sich der Herausforderung, seine pointierte Theologie mit der bleibenden heilsgeschichtlichen Rolle Israels in eine konstruktive Beziehung zu setzen, ausführlich stellen.

Neben diesem theologisch wohl folgenreichsten und umstrittensten Aspekt der Lesung seien kurze Bemerkungen zu zwei weiteren Themen des Lesungstextes gemacht: Das Stichwort des «Rühmens» in Gal 6,14 verweist auf 6,13 zurück. Paulus grenzt sich damit kreuzestheologisch von einer Position ab, die er seinen Gegnern kurzerhand unterstellt – doch ist es wirklich plausibel, dass diese sich «in eurem Fleisch» (so wörtlich in 6,13), d. h. mit der «Vorhaut» (so wörtlich in 6,15!) der galatischen Männer rühmen wollen? – Schliesslich ist der paulinische Hinweis «ich trage die Male [gr. stígmata] des Jesus an meinem Leib» nicht im Sinne von «Stigmatisierungen» im Stile des Franziskus zu verstehen. Paulus spielt hier vielleicht auf sichtbare Narben an, die er aus Verfolgungssituationen (Prügelstrafen, Steinigung; vgl. 2 Kor 11,23–25) davongetragen hat.

Heute mit Paulus im Gespräch

Der Segenswunsch über das «Israel Gottes» eignet sich hervorragend, um in der Predigt über das Verhältnis zwischen Israel und Kirche, Erstem und Neuem Bund nachzudenken und damit eine zentrale theologische Neubesinnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Thema zu machen. Die erste Lesung aus Jes 66 (Freude mit Jerusalem) sowie das Evangelium (Aussendung der 72) bieten dafür zahlreiche weitere Anknüpfungspunkte.

 


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.