«Zusammen ist man stärker, vielfältiger»

Die grüne Ständerätin Maya Graf setzt sich neben ihrem Engagement für die Schöpfung besonders für die Schwächeren in der Gesellschaft ein. Ihr erstes Amt hatte sie in der reformierten Kirchenpflege von Sissach BL.

Maya Graf (Jg. 1962) ist dipl. Sozialarbeiterin HFS. Sie war von 2001 bis 2019 Nationalrätin der Grünen, 2013 war sie die erste grüne Nationalratspräsidentin, seit 2019 vertritt sie das Baselbiet als erste Ständerätin. Daneben wirkt sie in der Hofgemeinschaft des familieneigenen Bio-Bauernhofs mit. (Bild: zvg)

 

SKZ: Sie engagieren sich in vielen Bereichen. Welcher liegt Ihnen besonders am Herzen?
Maya Graf: Für mich gibt es nicht nur ein Thema; ich bin jemand, der die verschiedenen Themen verbindet. Was mich in meiner politischen Arbeit leitet, sind soziale Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Ich habe mich schon als Kind für Gerechtigkeit eingesetzt und kann Ungerechtigkeit nicht ertragen. Unter sozialer Gerechtigkeit verstehe ich auch die Gerechtigkeit gegenüber der Umwelt und gegenüber unseren Mitgeschöpfen. Wir haben eine grosse Verantwortung und sollten unseren Lebensstil und unser Zusammenleben so gestalten, dass wir nicht alle natürlichen Ressourcen auf Kosten der Vielfalt des Lebens und unserer Nachfahren ausbeuten.

Das Referendum zum neuen CO2-Gesetz ist problemlos zustande gekommen. Wie interpretieren Sie dieses Resultat?
Es erstaunt mich nicht, da die ganze Erdöllobby dahintersteht und auch alle Branchen, die von ihr profitieren wie die Automobilbranche oder das Transportgewerbe. Aber das beeindruckt mich nicht, denn die Argumente liegen auf dem Tisch. Alle Parteien ausser der SVP und auch viele Unternehmen haben begriffen, dass nur eine nachhaltige Wirtschaft unsere Zukunft ist und der Klimaschutz zentral ist. Je schneller wir auf erneuerbare Energieträger umsteigen und sie in unser Wirtschaftssystem implementieren können, desto besser steht die Schweiz als Ganzes auch punkto Forschung, Bildung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit da.

Zu Ihren Aufgaben in der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) gehört auch die AHV. Man hat den Eindruck, dass diese auf Kosten der Frauen umgestaltet werden soll.
Der Bundesrat möchte durch die Erhöhung des AHV-Alters der Frauen die AHV um 10 Milliarden entlasten. Im Prinzip ist es richtig, wenn es eine Angleichung des AHV-Alters gibt. Die Frage ist, wie man die Ausgleichsmassnahmen vor allem für die Übergangsgenerationen von Frauen gestaltet, die keine Chance hatten, eine Altersrente anzusparen. Auf dem Buckel dieser Frauen wird die AHV nun saniert. Das ist umso problematischer, als wir in der Altersvorsorge sowie schon einen grossen Systemfehler in der zweiten Säule haben: Durch den Koordinationsabzug werden tiefe Löhne und Teilzeitlöhne massiv benachteiligt. Es ist heute so, dass dadurch mehr als 30 Prozent aller Frauen keine zweite Säule haben. Durch die geleistete Familienarbeit entstehen Lücken in der Altersvorsorge, viele Frauen arbeiten Teilzeit und in den Tieflohnbranchen sind vor allem Frauen tätig. Als weitere Folge ist die Altersarmut heute weiblich. Und wenn wir all diese Ungerechtigkeiten zusammenzählen, ist es inakzeptabel, dass man die AHV auf Kosten der Frauen saniert.

Wie zufrieden sind Sie mit der bisherigen Covid-19-Politik?
Ich bin sehr froh, dass ich in der Gesundheitskommission mitarbeiten darf und so von Anfang an alle Informationen zur Covid-19-Pandemie und deren Bewältigung aus erster Hand erhalten habe. Nach dem Lockdown im vergangenen März nahm das Parlament seine Arbeit zum Glück schnell wieder auf. Wir konnten unsere Empfehlungen und Verbesserungsvorschläge eingeben sowie das Covid-19-Gesetz mit seinen Massnahmen für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, die Kultur, den Sport und den Gesundheitsbereich beschliessen. Es ist wichtig, dass das Parlament seine Rolle gefunden hat und in der Bewältigung mithilft, indem es gesetzliche Grundlagen zur Verfügung stellt, auf die der Bundesrat aufbauen und seine Entscheide fällen kann; es also keine ausserordentliche Lage mehr braucht. Wir haben mit dem Bundesrat zum Glück ein Gremium, dem man vertrauen kann.

Sie haben sich in der Krise für Menschen mit Beeinträchtigungen eingesetzt.
Die erste Welle war für Menschen mit Beeinträchtigungen ganz besonders schlimm. Sie wurden schlicht vergessen. Genauso wurde in der ersten Welle die Situation der Menschen in den Alters- und Pflegeheimen und des Pflegepersonals übersehen. Deshalb machte ich einen Vorstoss: Alle, die Alters- und Pflegeheime, aber auch Institutionen für Menschen mit Beeinträchtigungen vertreten, sollten von Anfang an in alle Entscheide bezüglich Covid-19-Massnahmen einbezogen werden, damit ihre Interessen und Bedürfnisse nicht vergessen gehen. Über diese Anliegen konnte ich mich in unserer Kommission bereits mit Bundesrat Alain Berset und Mitarbeitenden des BAG direkt austauschen. Leider haben die Kantone in den Monaten Oktober und November, als die Infektionszahlen wieder anstiegen, mit Massnahmen gezögert. In dieser Phase sind sehr viele Menschen gestorben. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass dies viele nicht interessierte. Man nahm einfach in Kauf, dass täglich über 100 Menschen am Coronavirus starben und sagte dann auch noch: «Es sind sowieso ältere Menschen.» Das hat mich sehr getroffen. Das finde ich für unsere Gesellschaft inakzeptabel und herzlos. Jedes Leben ist genau gleich viel wert.

Das Schicksal der älteren Menschen wurde nicht thematisiert.
Es sind in der Zwischenzeit fast 10'000 Menschen an Covid-19 gestorben, die allermeisten von ihnen in Alters- und Pflegeheimen. In der Sterbephase waren vor allem die Pflegenden anwesend, da die Angehörigen nicht dabei sein durften. Ich finde es unwürdig, dass wir in der reichen Schweiz mit seinem besten und teuersten Gesundheitssystem schon in normalen Zeiten so wenig Ressourcen haben und uns so wenig überlegen, wie Menschen ihren letzten Lebensabschnitt würdig begehen und genügend Betreuung erhalten können. Die Pfarreien und Kirchgemeinden spielen in der vierten Lebensphase eine wichtige Rolle. Ältere Menschen sind oft einsam und brauchen jemanden zum Austauschen. Hier dürften die Kirchen ruhig mehr zeigen, dass sie diese Aufgabe leisten.

Wie haben Sie es mit der Religion?
Ich habe der reformierten Kirche viel zu verdanken, da ich mein erstes quasi politisches Amt mit 21 Jahren in der reformierte Kirchenpflege in Sissach übernahm. Das Engagement der Kirchen im Bereich der Schöpfung und Menschlichkeit, Entwicklungszusammenarbeit und sozialen Gerechtigkeit auch über unsere Grenzen hinaus gefällt mir. Ich machte auch bei den sogenannten «Weltgebetstagen der Frauen» mit. Diese Zusammenarbeit mit Frauen aus allen Konfessionen gefiel mir extrem gut. Ich habe die Menschen gern und nehme sie an, wie sie sind. Ich liebe die ganze Schöpfung und ich sehe mich als Teil davon. Das Christentum zeigt uns durch die Geschichte von Jesus Christus das Revolutionäre: sich für die Schwachen ungeachtet der Herkunft gegen die Mächtigen einzusetzen. Dies als Grundethik zu haben, ist für mich sehr wichtig. Die christlichen Kirchen sollten dies mehr als ihre Aufgabe sehen. Und auch das Verbindende leben, gerade zu anderen Religionen.

Was wünschen Sie sich von der katholischen Kirche?
Ich arbeite als Co-Präsidentin von alliance F1 sehr nahe und sehr gerne mit dem Schweizerischen Katholischen Frauenbund, mit Simone Curau-Aepli, zusammen. Ich unterstütze ihren mutigen, unermüdlichen Einsatz, damit die Frauen in der katholischen Kirche ihre gleichberechtigte Stellung erhalten. Ökumene ist mir auch sehr wichtig. Diese sollte man auch auf andere Religionen ausweiten, gerade auch auf den Islam.

Wer ist Maya Graf privat?
Mir ist meine Familie sehr wichtig. Unsere zwei Kinder sind nun ausgeflogen, aber mein Bruder und seine Familie und meine Mutter wohnen auf unserem familieneigenen Bauernhof. Ich helfe gern mit und habe meine eigenen Tiere, Ziegen und Kaninchen. Wann immer ich kann, bin ich im nahen Wald unterwegs, ich bin sehr naturverbunden und wandere fürs Leben gerne. Da kann ich nachdenken, aber auch loslassen. Ich bin gerne mit Menschen zusammen. Meine grosse Leidenschaft ist die Politik. Ich habe Politik nie alleine gemacht. Zusammen ist man stärker, vielfältiger.

Interview: Rosmarie Schärer
 

 

1 alliance F ist die politische Stimme der Frauen in der Schweiz. Der überparteiliche Verein verbindet über 100 Organisationen sowie rund 500 Einzelpersonen.

 

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