Die Chancen der Kirchenberufe

Von allen Seiten werden Änderungen gefordert: der Strukturen, der Zulassungsbedingungen usw. Thomas Leist richtet unseren Blick hin auf das Wertvolle, das bereits da ist.

 

In den letzten zehn Jahren, in denen ich die Berufungspastoral in der deutschsprachigen Schweiz begleiten durfte, hatte ich mit mehreren Hundert Menschen Kontakt, die ihr Leben neu ausrichten wollten. Immer wieder ging es darum, etwas Sinnvolles zu tun und die Welt ein bisschen besser werden zu lassen.

In der gleichen Zeit wurde viel darüber debattiert, ob die Strukturen der Kirche für ihre Aufgabe und ihre Botschaft angemessen sind und nicht grundsätzlich eine neue Ordnung der Zulassungen und Kompetenzen notwendig ist. Dabei wurde bisweilen auch das Projekt «Chance-Kirchenberufe.ch» infrage gestellt. Ist es nicht eine Augenwischerei? Wie grosse Chancen haben diese Berufe tatsächlich, und welche?

Getragen und gestützt

«Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben.» So einfach beschreibt Christus die Aufgabe, in die er uns ruft: sich den Menschen heilsam zuzuwenden. Und keine Zulassungsbedingung zu einem kirchlichen Amt hält uns von dieser Aufgabe ab. Niemand verbietet mir als verheiratetem Mann oder meiner Frau, den Hungrigen etwas zu essen zu geben, den Kranken zu versorgen oder die Gefangene zu besuchen. Im Gegenteil: Ich werde dafür bezahlt und muss mich so um meine eigenen Lebensbedürfnisse nicht mehr kümmern. Ja, mehr noch: Anders als jeder Arzt darf ich mich ohne Probleme auch um jene kümmern, die keine Krankenkasse haben, sprich keine Kirchensteuer zahlen. Ich muss am Ende eines Kontaktes auch die Kosten nicht mit den Bedürftigen besprechen oder in fraglichen Fallpauschalen kompliziert abrechnen. Mir steht für diese Aufgabe eine ausgezeichnete Infrastruktur zur Verfügung und eine gesellschaftliche Anerkennung im Kontakt mit anderen sozialen Einrichtungen. Ich werde getragen vom Gebet vieler und von der tätigen Mithilfe oft hochkompetenter Ehrenamtlicher. Ich arbeite für diese Aufgabe in einem Team und mit einer weltweiten Vernetzung. Ich erlebe ein Vertrauen im Gegenüber, das sich nicht allein herleitet aus meiner Person, sondern aus der Institution, für die ich tätig bin.

Zwölf Möglichkeiten, Gutes zu tun

«Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben.» Ich weiss nicht, wie ein Lebensmittelfabrikant diesen Satz hört, ich weiss nicht, wie ihn ein Bischof hört – und beides werde ich nie sein. Aber ich weiss, dass nichts und niemand mir im Wege steht, diese Aufgabe und Berufung anzunehmen und zu leben.

Ich bin absolut sicher, dass sich auch kirchliche Strukturen ändern müssen «Weil Gott es so will», wie es im Titel eines bemerkenswerten Buches heisst.1 Aber ich weiss auch, dass wir schon heute zwölf kirchliche Berufe haben, die sich in unterschiedlicher Ausrichtung der Aufgabe Christi verschreiben, und wir so Menschen mit ganz unterschiedlichen Talenten einladen können, Berufung zum Beruf werden zu lassen. Und schlussendlich hat jener, den die Sakristanin in der Kirche schlafen lässt, weil es kalt draussen ist, während der Organist ihm durch sein Üben Musik schenkt und die Sekretärin ihm ein einfaches Brot bereitet, mehr vom Geist der Liebe erfahren, als ihm ein Amt hätte geben können. Das, eben das ist die Chance der Kirchenberufe.

Thomas Leist

 

1 Rath, Philippa (Hg.), «Weil Gott es so will». Frauen erzählen von ihrer Berufung zur Diakonin und Priesterin, Freiburg i. Br. 2021.

 


Thomas Leist

Thomas Leist (Jg. 1967) ist Leiter der Fachstelle Information Kirchliche Berufe IKB und Projektleiter von «Chance Kirchenberufe». Mit seiner Frau ist er in solidum seit 24 Jahren pfarreibeauftragt, aktuell in Herrliberg ZH.