125. Tag: Ich liege im Zelt. Alles ist nass. Eigentlich hatte ich am Vortrag noch gemeint, die Sache sei gegessen. Der letzte hohe Pass hinein ins Vallée des Merveilles war überschritten. Von den Alpen waren nach dem Abstieg nur mehr ein paar schroffe Kalkfelsen mit mediterraner Vegetation und pittoresken Dörfern geblieben. «Jetzt laufe ich es heim», hatte ich am Morgen noch unbeschwert gedacht. Was folgte, war ein Tag mit starken Regenfällen, steilen, rutschigen Wegen, dichter Vegetation, Dornen, Stacheln und am Abend die Abweisung bei jedem erschwinglichen Quartier. So hatte ich noch fünf Kilometer angehängt und während eines Wolkenbruchs im Finstern mein Zelt neben der Ruine einer Kapelle aufgebaut. Erschöpfung.
In der Früh war immer noch alles nass: das Zelt, meine Ausrüstung, meine Kleidung. Und hier fiel sie dann, die Entscheidung. Ein letzter Kraftakt bis zum Meer. Ein vielleicht idiotischer Versuch, an die körperlichen Grenzen zu gehen und zu sehen, was passiert.
28 Stunden und 107 Kilometer später stehe ich wie in Trance am Endpunkt meiner Reise. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch bin ich gegangen. Hügel, Dörfer, kleine Pässe, Irrwege, Beten im Heiligtum der Notre-Dame de Laghet (I). 55 Tageskilometer und fast 3000 Höhenmeter liegen hinter mir, als ich Monaco in der hereinbrechenden Dunkelheit erreiche. Die Lichter und das Meer zu Füssen, bin ich durch die Parks und steilen Gassen bis zur Uferpromenade gestolpert. Aber hier kommt nicht das Ende eines langen Tages. Besuch zweier Kirchen, Essen aus dem Supermarkt, eine kurze Rast und dann zurück zum Weg. Navigieren durch die Vorstadt. Schmale Wege und Stahltreppen auf den Pfaden über die Klippen. Das Meer rauscht. Ich keuche im Licht der Stirnlampe. Es folgen Strassenkilometer neben protzigen Sportwagen mit johlenden Partymachern. Tunnel. Unzählige Kurven entlang der Küste. Zwei Uhr morgens auf der nicht enden wollenden Promenade von Nizza; Hunderte Menschen sind auf dem Heimweg vom Feiern, Müllmänner räumen in ihren surrenden Elektrowägen die Flaniermeile, Betonblockaden, die vor neuerlichen Terrorakten schützen sollen, werden mit Kränen verladen. Ich wandere im orange-braunen Licht der Natriumdampflampen vorbei am Flughafen, Asphalt unter den Füssen für viele Kilometer. Häuserreihen. Betrunkene Discobesucher. Lichtlose Hotelanlagen tauchen auf am Horizont und verschwinden wieder im Dunkel hinter mir. Immer noch gehe ich. Nicht gezielte Kraft bewegt meine Schritte. Alles Automatik.
Rhythmisch schwappt das Wasser in der Flasche. Dann zartes Blau am Horizont. Der neue Tag beginnt, ohne dass der alte je ein Ende gefunden hat. Pink. Brennendes Rot. Die glühende Scheibe steigt aus den Wassern. Eine Weile stille Einsamkeit. Dann erste Jogger. Zwei Stunden später volles Leben. Sand, Asphalt, Häuser. Und dann das Ortsschild von Cannes! Euphorie. Hinter mir die Alpen. Vor mir ein letzter kleiner Hügel im Meer: die Insel St-Honorat, auf der seit dem Jahr 410 die Mönche beten. Endpunkt des Weges, auf den ich vor 125 Tagen aufgebrochen bin.
Peregrinus – das lateinische Wort für Pilger – ist das Pseudonym, unter dem einer der bekanntesten Theologen dieses Inselklosters vor fast 1600 Jahren sein wichtigstes Werk schuf. In ihm schrieb er die berühmten Zeilen: «In eben jener katholischen Kirche ist mit grösster Sorgfalt dafür zu sorgen, dass wir halten, was überall, was immer, was von allen geglaubt wurde» – quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum. Dieser Glaube hat auf meinem Weg durch die Berge mannigfaltige Gestalt angenommen – in nobler Schlichtheit, in erhabenen Linien, in gewagten Schnörkeln und Stuck; im Herzen der Städte und auf den Gipfeln der Berge. Aber das, was ihn beseelt und beseelen muss, ist immer gleich. Es ist die Treue zu dem, auf dem dieser Glaube gegründet steht: dem Evangelium Christi – also der Botschaft des Gottes, der Mensch wurde, um den Menschen zurück zu Gott zu führen. Denn es ist bei Gott, wo unser eigentlicher Weg ein Ende findet – ein Weg, für den wir keine Wanderschuhe brauchen.
Duft von Lavendel. Bunte Blütenpracht. Und ich trete ein in die heiligen Hallen voll himmlischen Gesangs.
Johannes Maria Schwarz