Karl Barth und seine Schweiz

Zum 50. Todestag des berühmten Basler Theologen, dessen «Römerbrief»-Kommentar vor 100 Jahren erschien, beleuchten die folgenden Zeilen das Verhältnis Barths zu seinem Heimatland.

Karl Barth in Basel, 1955. (Bild: Karl-Barth-Archiv Basel)

 

Karl Barth wurde am 10. Mai 1886 in Basel geboren. Kurz zuvor war sein Vater, Fritz Barth, bis dahin Pfarrer im aargauischen Reitnau, als Dozent an die Evangelische Predigerschule in Basel berufen worden. Die Familie war fest im reformierten Basel verwurzelt: Beide Elternteile waren hier geboren und beide Grossväter Barths waren Pfarrer in Basel gewesen. Im Frühjahr 1889 wurde der Vater als Professor nach Bern berufen, wo Barth aufwuchs. Für seine spätere Berufswahl war neben dem Beispiel des Vaters der über Bern hinaus bekannte Pfarrer Robert Aeschbacher verantwortlich, dessen Konfirmandenunterricht Barth beeindruckte.

Ein merkwürdiges Ding

In seinem Pfarramt in Safenwil (1911–1921), wo er aufgrund seines Einsatzes für die Arbeiter im Ort und seines Beitritts zur SP als «roter Pfarrer» galt, zeigte sich, wie beinahe pathetisch, aber von nationalistischer Überhöhung frei Barth über die Schweiz dachte: «Ein merkwürdiges Ding, unsre kleine Schweiz. Eine ganz gewaltige Aufgabe haben wir zu erfüllen, wenn wir recht und echt sind, was wir sind. Wir sollen den Völkern ringsum, die […] einander beständig mit Krieg bedrohen, […] zeigen, was ein Staat ist, d. h. eine einheitliche gerechte Ordnung des gemeinsamen Lebens […]? Ist es nicht eine wundervolle Aufgabe, dass wir den Völkern der Erde schon jetzt zeigen dürfen, dass so etwas nicht ein schöner Traum, sondern etwas Mögliches ist?»1 Barth war also nicht unkritisch gegenüber den Zuständen in Kirche und Gesellschaft, wie schon sein politisches Engagement in Safenwil beweist. Ein gewisser Stolz Barths auf die Schweiz, spe- ziell auf ihren freiheitlichen und rechtsstaatlichen Charakter, ist aber erkennbar.

Das unvollendete Lebenswerk

Noch in Safenwil verfasste Barth mit seinem 1919 in erster und 1922 in zweiter, völlig veränderter Auflage erschienenen «Römerbrief»-Kommentar ein epochemachendes theologisches Werk, das die bis dahin vorherrschende evangelische Theologie radikal infrage stellte. Er wurde daraufhin, ohne eine Dissertation oder gar Habilitation geschrieben zu haben, auf theologische Lehrstühle in Deutschland berufen und galt als Kopf der sich formenden neuen «Dialektischen Theologie». Bei der Absage an die überkommene Theologie blieb er jedoch nicht stehen. Mit dem 1932 erschienenen ersten Band der «Kirchlichen Dogmatik» war noch vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland der Grundstein gelegt zu einem Werk, an dem er beinahe bis zu seinem Lebensende weiterarbeiten sollte, ohne dass es – zuletzt auf rund 9000 Seiten angewachsen – vollendet worden wäre.

1935 musste Barth Deutschland verlassen: Seine von Anfang an konsequent ablehnende Haltung gegenüber den Nationalsozialisten und besonders ihrem evangelisch-kirchlichen Ableger, den «Deutschen Christen», führte zuletzt dazu, dass er seine Lehrtätigkeit nicht weiter ausüben durfte. Mit ausschlaggebend waren Sätze wie diese: «Ich weiss wohl, in welchem Stück ich ein Schweizer bin und mitten in der deutschen Theologie und Kirche auch total und unentwegt bleiben will – in dem nämlich, was bei dem sehr profanen Gottfried Keller zu lesen steht: Heil uns, noch ist bei Freien üblich / Ein leidenschaftlich freies Wort!»2

Barth kehrte 1935 nach Basel zurück, wo er bis zu seiner Emeritierung weiterlehren konnte. Mit Barth kamen nicht nur seine Frau und die Kinder in die Schweiz zurück, es begleitete ihn auch die seit 1929 mit im Haus der Familie lebende Charlotte von Kirschbaum. Sie war Barth seit 1926 zur unentbehrlichen Hilfe für seine Arbeit geworden, aber beide waren weit tiefer in Liebe verbunden. Der Fortgang der Arbeit Barths war für alle der übergeordnete Gesichtspunkt, und so dauerte diese «Notgemeinschaft» (Barth) an, bis Charlotte von Kirschbaum 1965 aufgrund einer demenziellen Erkrankung das gemeinsame Zuhause verlassen musste.

Die Kirche muss sich einmischen

Von 1935 an blieb die Weiterarbeit an der «Kirchlichen Dogmatik», Kapitel für Kapitel als Vorlesung gehalten, Barths Hauptbeschäftigung. Im Fokus der Öffentlichkeit aber standen oft seine politisch-gesellschaftlichen Aktivitäten. Getreu seiner Lehre von der «Königsherrschaft Christi», nach der es keine strikte Trennung von Evangelium und Gesetz gebe, ein Christ sich also den weltlichen Problemen gegenüber nicht in vornehmer Zurückhaltung üben dürfe, war Barth durchweg auch mit aktuellen Fragen beschäftigt: Er warnte die Schweizer Kirche vor einer Theologie und einer kirchlichen Praxis, die in seinen Augen die deutsch-christlichen Häresien erst ermöglicht hatten – und stiess mit seinem scharfen Vokabular das eine ums andere Mal auf grosses Unverständnis.

Zusammen mit dem hier federführenden Pfarrer Paul Vogt engagierte er sich seit 1937 in der Flüchtlingshilfe für Verfolgte aus Deutschland. Er trat öffentlich gegen die deutschen Aggres- sionen auf und erinnerte daran, dass die Schweiz für demokratische und freiheitliche Werte stehe, für die es zu kämpfen lohne. In den Jahren unmittelbarer Bedrohung machte er sich damit in der Schweiz nicht viele Freunde. Mit der Begründung, sein Tun und Reden gefährde die Schweizer Neutralität und Unversehrtheit, griff man zu drastischen Massnahmen: Schriften von ihm wurden verboten, er erhielt Redeverbot und sein Telefon wurde überwacht.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs setzte Barth sich öffentlich für einen konstruktiven Umgang mit den Deutschen ein. Auf der Basis ihrer selbstverständlich notwendigen Einsicht in die auf sich geladene Schuld rief er dazu auf, den Deutschen nun ein «Freund» zu sein, denn Feinde hätten sie sich genug gemacht.

Barth, der Kommunist?

Im Kalten Krieg weigerte Barth sich, dem Chor antikommunistischer Stimmen beizutreten. Die polemische, oft hässliche Auseinandersetzung um seine Haltung begleitete ihn nun dauernd und der Vorwurf war immer derselbe: Die Weigerung beweise seine in Wahrheit kommunistische Gesinnung – oder bestenfalls seine Naivität in dieser Frage. Der Berner Regierungsrat Markus Feldmann behauptete gar, Barths Haltung gefährde die westliche Existenzgrundlage. Man hielt ihm vor, den Kommunismus mit einem anderen Massstab zu beurteilen als den Nationalsozialismus. Oft waren es dieselben Personen, die bis 1944/45 seine Deutlichkeit dem Nationalsozialismus gegenüber scharf kritisiert hatten.

Barth empfahl der Kirche einen «dritten Weg»: «Die Kirche kann gerade heute nur dann Kirche sein, wenn sie dazu frei bleibt. Sie kann nur für Europa sein. Nicht für ein östlich, nicht für ein westlich bestimmtes und orientiertes, sondern für ein freies, einen dritten, seinen eigenen Weg gehendes Europa.»3 In den frühen 1950er-Jahren waren solche Ideen und Differenzierungen allerdings auch in der Schweiz noch wenig gefragt. So blieb seine Position vielfach unverstanden.

Barth trat in jene Auseinandersetzungen zunehmend widerwillig ein. Erfreulicher für ihn war, dass bei der Wendung, die sein Verhältnis zur Ökumene nahm, schweizerische katholische Theologen eine wichtige Rolle spielten. Barth schrieb 1965: «Ist es endlich ein Zufall oder […] entspricht es nicht einer gewissen vielleicht gesamthelvetischen Eigentümlichkeit, dass es sich bei den bekannten von Hans Urs von Balthasar und Hans Küng mir im besonderen so verständnisvoll zugewendeten Bücher[n] um Gespräche gerade schweizerischer Katholiken mit einem schweizerischen Reformierten handelt?»4

Peter Zocher

 

1 Barth, Karl, Predigten 1913, Zürich 1976, 481 f.

2 Barth, Karl, Abschied, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, Zürich 2013, 513 f.

3 Barth, Karl, Die Kirche zwischen Ost und West, Zollikon-Zürich 1949, 30.

4 Barth, Karl, Reformierte Theologie in der Schweiz, in: Ex Auditu Verbi, Kampen 1965, 34.


Neuerscheinungen zum Gedenkjahr: «Karl Barth – Ein Leben im Widerspruch». Von Christiane Tietz, München 2018, ISBN 978-3-406-72523-4; «Karl Barth – Sein Leben in Bildern und Dokumenten». Herausgegeben von Peter Zocher (Karl-Barth-Gesamtausgabe, Abt. VI), Zürich 2018, ISBN 978-3-290-18199-4.

 


Peter Zocher

Dr. theol. Peter Zocher (Jg. 1967) studierte in Münster Theologie und promovierte dort mit einer Arbeit zur kirchlichen Zeitgeschichte. Seit 2012 ist er Leiter des Karl-Barth-Archivs in Basel und in dieser Funktion zugleich Herausgeber der inzwischen 54 Bände umfassenden Karl-Barth-Gesamtausgabe.