«Es braucht Glück …»

Seit Sommer 2017 ist in St. Gallen das Cityteam* unterwegs, das lebensraumorientiert arbeitet und Neues ausprobiert. Einer davon ist Benjamin Ackermann, der mobile Cityseelsorger.

SKZ: Wie ist die Idee des Cityteams entstanden?
Benjamin Ackermann: Gespräche darüber gab es schon vor über zehn Jahren. Es wurde wahrgenommen, dass auf dem gleichen Territorium Menschen aus unterschiedlichen Milieus leben. So stellte sich die Frage, wie wir darauf reagieren können. Ein einzelner Seelsorger ist bis zu einem bestimmten Punkt überfordert, auf seinem Gebiet für alle Milieus zu schauen. Mit einer Zwei- drittelmehrheit haben die Seelsorger des Dekanats St. Gallen dafür abgestimmt, dass es Stellen geben soll, die nicht territorial, sondern kategorial arbeiten. Stichwort: Lebensraumorientierte Seelsorge. Diese Stellen wurden ausgeschrieben, doch da es keine zusätzlichen Stellen waren, versuchte man Mitarbeiter zu bewegen, einen Teil ihres Pensums für die Citypastoral einzusetzen. Ich habe mich nach meinem Studienabschluss direkt für diese Stelle beworben.

Sie sind in der Berufseinführung und arbeiten in einem Teilpensum an einer Stelle, die noch kein Profil hat. Sie wurden ins kalte Wasser geworfen …
Bei meiner Anstellung wurde das ausführlich besprochen. Man muss gemäss Reglement der Berufseinführung mindestens 50 Prozent in einer Pfarrei tätig sein. Dies ist mit meiner Anstellung am Dom gewährleistet. Dort kann ich in alle «klassischen» Aufgaben einer Pfarrei hineinschauen. Bei der mobilen Cityseelsorge habe ich nur ein 30-Prozent-Pensum. Bei einigen Projekten wie z. B. «Living Stones» gibt es eine Überschneidung. Dieses Projekt gehört zu meinen Aufgaben als Cityseelsorger, betrifft aber auch die Kathedrale.
Ja, es war schlussendlich schon ein Sprung ins kalte Wasser (lacht). Und manchmal war es sehr kalt. Doch ich bin froh, dass ich nicht durch eine Pfarreierfahrung geprägt bin. So habe ich keine «Pfarreibrille» im Sinne von «Nein, das geht bestimmt nicht». So konnte ich völlig unvoreingenommen an die Arbeit gehen. Da die Stelle neu geschaffen wurde, gibt es noch keine Pläne oder konkrete Ziele. Mir gefällt die Zweiteilung von «Pflichtbereich» am Dom und «Kür» in der mobilen Cityseelsorge.

«Das Cityteam sucht und experimentiert zusammen mit Interessierten und Partnern», heisst es auf der Webseite. Was muss man sich darunter vorstellen?
Es ist uns ein Anliegen, dass wir nicht wie die territoriale Seelsorge Angebote schaffen und erwarten, dass die Menschen zu uns kommen. Wir arbeiten deshalb immer mit Partnern zusammen. Meine Kollegin vom Bereich «Kultur und Bildung» hat jetzt gerade mit einem Theaterverein ein Theater für Flüchtlinge auf die Beine gestellt. Sie haben so ihre beiden Netzwerke zusammengebracht. Ich war kürzlich privat unterwegs, um Musiknoten zu kaufen. Wie ich eben bin, habe ich dann doch mit dem Ladenbesitzer ein wenig über die Cityseelsorge geredet. Wir sind darauf zu sprechen gekommen, wie wichtig Musik für ein ganzheitliches gesundes Leben ist und wie wenig Bewusstsein dafür da ist. Spontan ist die Idee gekommen, im Sommer auf dem Klosterplatz etwas Flashmobmusikmässiges zu machen, um Musik und unsere Kirchenmusik zu bewerben. Nun ist es nicht so, dass ich es organisiere, sondern ich spanne bewusst mit diesem Laden und seinem Kundennetzwerk zusammen. So kann es anfangen. Und so kommen wir oft mit Menschen in Kontakt, die sonst keinen Kontakt mit der Kirche haben. Es braucht Glück, die richtigen Begegnungen, gute Ideen und einen gemeinsamen Nenner, hinter dem wir als Kirche auch stehen können. Dieser muss oft deutungsoffen sein, was manchmal eine Gratwanderung darstellt.

Sind Sie für die Menschen als kirchlicher Mitarbeiter erkennbar?
Ich habe schnell gemerkt, dass ich für die Menschen erkennbar sein muss. Hier wären das Kollar oder die Soutane wieder gut (schmunzelt mit einem Augenzwinkern). Ich ziehe eine orange Jacke mit Schriftzug an, wenn ich auffallen möchte, z. B. wenn ich mit der «Kostbar» unterwegs bin. Wenn ich als junger Mann mit «Kirche» angeschrieben bin, dann geht die Klischeeschublade nicht mehr zu, die klemmt. «Der ist jung», «der ist bei der Kirche», das weckt das Interesse der Menschen.

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Sie haben gerade die «Kostbar» erwähnt. Was ist das?
Benjamin Ackermann: Die «Kostbar» ist ein Fahrrad mit einem Vorbau, auf dem Krüge stehen. Wenn ich mich mit ihr irgendwo hinstelle, funktioniert das recht gut. Einige kommen wegen des speziellen Fahrrades, die anderen wegen der Beschriftung «Kostbar», wieder andere sehen die verschiedenen Krüge und andere haben einfach Durst.
Der Name «Kostbar» bestand schon vor meiner Zeit. Ich musste mir überlegen, was ich damit mache. Ich wollte auf keinen Fall aktiv auf die Menschen zugehen. Hier in St. Gallen hat es viele Stände, die dies tun. Es ist für die Stadtbewohner fast zu viel. So suchte ich nach einer anderen Form. Durch meine passive Präsenz erlebe ich von den Menschen viel Goodwill und sie kommen zu mir. Dann fordere ich sie auf, in die Krüge zu schauen, um etwas sehr Kostbares zu entdecken. (Anm. d. Red.: Hier soll der Inhalt nicht verraten werden). Den Menschen vermittle ich auf ganz einfach Weise, dass dieses Kostbare die frohe Botschaft ist, die die Kirche verkündet. Dies gibt kurze oder längere Gespräche, manchmal gebe ich auch meine Visitenkarte ab. Wenn ich spüre, dass mein Gegenüber eine bestimmte Frömmigkeit hat, gebe ich ihm auch einen Flyer einer entsprechenden Gruppe mit.
Mir ist aufgefallen, dass Stände, die regelmässig vor Ort sind, z. B. die Zeugen Jehovas, Vertrauen wecken. So möchte ich im nächsten Sommer mehr präsent sein. Ich habe einige Orte ausprobiert. Ideal ist der Standpunkt bei den Drei Weieren. In der Stadt unten sind die Leute oft zielstrebig unterwegs, da sie einen Termin haben. Bei den Drei Weieren spazieren die Menschen. Sie sind langsam unterwegs und können schon von Weitem schauen, wer oder was ich bin und sich überlegen, ob sie zu mir kommen wollen oder nicht.

Haben Sie auch schon Anfragen von Menschen erhalten, etwas anzubieten?
Kürzlich ist jemand gekommen, der angeregt hat, dass wir etwas für Singles organisieren sollen. Unsere Antwort war: Ja, das machen wir gerne, aber nur, wenn jemand mithilft. Wie bei unserem Bistumsprojekt «Neuland» geht es darum, mehr Freiwillige einzubinden. Unklar ist für mich, inwieweit ich bei meiner konkreten Arbeit Freiwillige wirklich einbinden kann, da es oft eine undankbare Aufgabe ist. Sie müssten viel herumstehen, offen sein, mutig sein. Vor allem müssten sie alleine dastehen, denn dann strahlen sie eine Verletzlichkeit aus: Ich bin allein. Sobald zwei Personen dastehen, getrauen sich die Menschen weniger zu kommen. Ich würde also Freiwillige brauchen, die sich mega mit der Kirche identifizieren und auf alle Anliegen aber auch Vorwürfe eingehen
können. Im Projekt «Living Stones» brauche ich auch starke Freiwillige. Auch sie stellen sich hin in der Kirche und für die Kirche, doch dies in einem geschützteren Rahmen.

Wie läuft das Projekt «Living Stones» in St. Gallen?
Für mich war von Anfang an klar, dass ich nicht nur mit Studierenden arbeiten kann, wie es vom Projekt her eigentlich vorgesehen ist. Früher haben sich die Studierenden am Studienort engagiert, heute bleiben sie an ihren Wohnorten verwurzelt und kommen nur zum Studieren nach St. Gallen.
Ich bin immer wieder im Gespräch mit Menschen, die sich dafür interessieren. Viele gehen zwischendurch ins Ausland oder haben andere Termine. Es ist wahnsinnig schwierig, Termine für die gemeinsamen Treffen zu finden. Interesse zu zeigen ist das eine, aber wirklich mitzumachen, ist dann das andere.
Oft sind es immer die gleichen Freiwilligen, die sich engagieren. Ich habe manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn ich Menschen sehe, die sich freiwillig engagieren und gleichzeitig beruflich sehr eingespannt sind. Ich denke öfters, ich müsste ihnen einmal sagen: He, mach weniger! Nimm dir mehr Zeit für dich.

Welches wird Ihr nächstes Projekt sein?
Die Museumsnacht gibt es schon länger und die Kathedrale macht da auch mit. Ab nächstem Jahr wird das Cityteam diese Aufgabe übernommen, obwohl wir die Kirche ja nicht als Museum sehen (lacht). Hier arbeiten wir auch mit vielen Freiwilligen zusammen. Sie gehen in Gruppen von 20 bis 30 Personen an verschiedene Stationen in der Kathedrale. Wir hatten dieses Jahr 500 Besucher. Menschen, die normalerweise vermutlich nicht in die Kathedrale gekommen wären. Auch hier merke ich, dass die Menschen offen, interessiert und neugierig sind. Wir Seelsorger halten uns oft so sehr zurück und möchten niemandem zu nahe treten. Ich denke manchmal, dass wir das, was wir glauben und haben, ein wenig mutiger heraustragen dürften.

Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem ersten Jahr gesammelt?
Da kann ich gar keine konkrete Auskunft geben. Im ersten Jahr habe ich zunächst einmal das Gespräch mit Menschen gesucht, mich umgeschaut, was es alles schon gibt, und mich vernetzt.
Ich durfte feststellen, dass die Menschen ausserhalb des kirchlichen Milieus sehr offen für Kirche sind, neugierig sind. Es ist ihnen nicht egal, was in der Kirche passiert, auch wenn sie vielleicht ausgetreten oder distanziert sind. Es geht ihnen nahe.
Wenn sie dann von der Cityseelsorge hören, wenn sie merken, dass die Kirche etwas ausprobiert, neue Wege gehen möchte, zu den Menschen gehen möchte, sich an die Ränder bewegt, wird das sehr positiv wahrgenommen. Da gibt es oft strahlende Augen.
Eine Erkenntnis, die ich für mich gezogen habe: Als Seelsorger sind wir sehr angebotsorientiert. Wir organisieren und gestalten Flyer, damit wir am Abend das Gefühl haben, wir hätten etwas gemacht. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es für die Menschen genügen würde, wenn sie spüren können, die Kirche ist da, sie ist ansprechbar, sie ist nahe, sie bekommt mit, was in der Welt und den Menschen passiert. Bildlich gesprochen: Es reicht, wenn sie sehen, dass im Pfarrhaus Licht brennt. Sie sind aber froh, wenn sie keinen Grund haben, dorthin zu gehen. Seelsorge ist oft verbunden mit dem Gedanken: mir geht es schlecht, ich brauche Hilfe.
Darum bin ich ziemlich angebotskritisch. Wir bemühen uns, investieren viel, und am Schluss kommen genau die fünf Menschen, die wir sowieso schon kennen und die wir mit einem Anruf hätte einladen können.

Wie sieht die Zukunft der Kirche aus?
Ich habe schon meine Vision für die Stadt St. Gallen (lacht laut). Ich bin überzeugt, dass die Mobilität der Menschen steigt. Nehmen wir zum Beispiel die Menschen, die sich für «Living Stones» interessieren. Die wenigsten von ihnen wohnen auf unserem Pfarreigebiet. Auch bei Familien sehe ich, dass sie an die Orte fahren, an denen etwas für Familien angeboten wird, wo sie andere Familien treffen. Hier kommt eine neue Dynamik auf.
Wir haben jetzt noch starke, engagierte Gruppen von Senioren, die sich sehr für die Kirche vor Ort einsetzen, da sie hier lange mitgearbeitet und sich dafür engagiert haben. Es wird auch in Zukunft wichtig bleiben, präsent zu sein. Aber im Sinn von: Wir sind hier vor Ort, aber nicht jeder Ort muss das volle Programm bieten. Eben z. B. für Familien: lieber Anlässe an wenigen Orten, dafür mit vielen anderen Familien zusammen.
Es gibt zwei Dynamiken:

  1. Präsent bleiben in den Quartieren. Wir haben Topkirchen und Toppfarreizentren an Toplagen und da müssen wir präsent sein, um den Menschen die Wahl zu lassen. Wer eine Ortskirche möchte, hat sie, muss sich aber mit dem Angebot vor Ort zufriedengeben. Bei der abnehmenden Zahl von Seelsorgern gibt es vielleicht nur einen Mitarbeiter vor Ort, der aber präsent ist: im Pfarrhaus, an den Quartieranlässen usw.
  2. Wer auf einen spezifischen Anlass Wert legt, der geht dahin. Sei es wegen entsprechender Angebote für Jugendliche oder Familien, sei es wegen der Person, die predigt, sei es wegen einer bestimmten Kirche. Einige kommen zum Beispiel gerne in die Kathedrale. Es muss immer mehr in diese Richtung gehen. Ich schreibe als Absender bewusst immer «Katholische Kirche im Lebensraum St. Gallen» und nicht Dompfarrei oder Cityteam.

Im Lebensraum St. Gallen zu denken, fordert jene heraus, die lange in einer Pfarrei tätig waren. Wir sind hier im Wandel. Ich selber bin damit aufgewachsen, für mich ist das normal.

Interview: Rosmarie Schärer


Interview-Partner Benjamin Ackermann

Benjamin Ackermann (Jg. 1990) studierte Theologie in Chur und Bogotá (Kolumbien). Er arbeitet seit 2017 als Pastoralassistent in Berufseinführung in der Dompfarrei St. Gallen und als mobiler Cityseelsorger.